Schilf
Finger verbrennt.
»Verrat mir noch«, sagt Oskar, »warum du heute Abend nach Genf gekommen bist.«
»Um dir zu sagen, dass wir uns nicht mehr sehen werden.«
Als Sebastian sich erhebt, schaut ein Mann zu ihm auf, der sich selbst nicht mehr ähnlich sieht. Ein Gesicht ohne Größe, ohne Schönheit, ohne Aristokratie, plötzlich so hilflos, dass die einander abwechselnden Mienen wie Blaupausen wirken. Die Skizze eines Lächelns. Ein Diagramm des Spotts, ein Entwurf der Erschöpfung. Die Anatomie der Traurigkeit.
»Tu mir einen Gefallen«, sagt Sebastian. »Bleib sitzen und sieh nicht hin, während ich gehe.«
Der Fasan hat die Augen geöffnet und starrt ins Leere. Hinter der Bar klappern Gläser. Draußen wartet die Nacht. Nebel ist der Stadt in die Straßen gedrungen. Es riecht nach Regen.
5
S eit einer Stunde rufen ihn die Trommeln, geben das Tempo vor, in dem er losmarschieren soll, und er weiß, dass sie recht haben, dass es Zeit wäre, endlich aufzubrechen. Trotzdem zögert er, als hätte er noch etwas Wichtiges zu erledigen, etwas nachzuprüfen und zu verstehen. Dann ein Schrei, durchdringend wie ein Schlachtruf.
Die Digitalanzeige des Weckers zeigt eine Vier und zwei Nullen. Es kommt häufig vor, dass der Kommissar exakt zur vollen Stunde erwacht. Der Schrei reißt nicht ab und entpuppt sich als das Weinen eines Babys in der Nachbarwohnung. Das Trommeln hingegen erzeugt der Regen, der wie eine Maschine gegen die Fenster arbeitet. Schilf schwingt die Beine aus dem Bett. Er fühlt sich ausgeruht wie schon lange nicht mehr und erschrickt, als ihm klar wird, dass sich der Tag noch längst nicht zu beginnen bequemt. Erfolglos betätigt er den Lichtschalter und tritt an die Balkontür. Wassertropfen veranstalten ein waagerechtes Wettrennen an der Scheibe, als führe das Haus mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht. Draußen herrscht eine Dunkelheit, die in der Stadt eigentlich nichts zu suchen hat. Die Straßenbeleuchtung ist ausgefallen; nur der gelbe Schein einer blinkenden Warnlampe erhellt das Inferno. Ein Baum liegt auf der Fahrbahn, ein anderer ist quer über drei parkende Autos gestürzt. Grob zerrt der Sturm an den Ästen, noch immer unzufrieden mit seinen erlegten Gegnern. Schilf genießt es, eine Unordnung zu betrachten, die ausnahmsweise nicht von Menschen erzeugt worden ist.
Schließlich wendet er sich fröstelnd ab und nimmt am Schreibtisch Platz. In der Schublade findet er einen Stapel Postkarten. Im Schein einer Feuerzeugflamme schreibt er auf die Rückseite der ersten:
»Liebe Julia, wenn du mich besuchen kommst, bring diese Karte mit zum Beweis, dass es dich gibt. Dringend (Großbuchstaben; drei ungeschickt gemalte Ausrufungszeichen). Schilf.«
Er verbrennt sich den Daumen am Feuerzeug und senkt das Gesicht tief über seinen zweiten Brief:
»Liebe Maike, was auch geschieht, Sie dürfen den Glauben nicht verlieren. Sie haben kein Recht, Sebastian zu zerstören. Bitte (ein Tintenfleck, als er die drei Ausrufungszeichen wieder durchstreicht). Ihr Kommissar Schilf.«
Zufrieden mit seinem Werk, adressiert er die erste Karte an seine eigene Anschrift in Stuttgart, die zweite an die Galerie für Moderne Kunst. Vorsichtshalber schluckt er die beiden letzten Kopfschmerztabletten, die ihm der Hausarzt verordnet hat, und setzt sich mit dem Schachcomputer auf die Couch.
Von Anfang an hat er sich zu wenig um das eigene Königshaus gekümmert. Dem Heldentod seiner Offiziere hat er bleich, aber standhaft zugesehen. Auch ein Großteil des Fußvolks ist Schilfs Fanatismus zum Opfer gefallen. Mit den letzten Bauern, Turm und Springer bedrängt er den gegnerischen König, der sich gelangweilt hinter einer Standardverteidigung verschanzt und wahrscheinlich eine Zigarette nach der anderen raucht. Schilf sieht ihn mit halb geöffnetem Hemd, eine Pistole zwischen den schlaffen Fingern. Wenn der Kommissar seinen Kontrahenten jetzt eine Atempause gönnt, wenn er sie nicht Zug um Zug zur Rettung ihres Häuptlings zwingt, ist er sofort erledigt. Schon beim Aufrufen der Partie packt ihn die Wut auf die feindliche Übermacht, auf den soliden Grundaufbau und die Verteilung der Figuren, die immer im passenden Moment an den richtigen Stellen stehen. Jeden seiner Vorstöße fängt der Computer in einem Netz aus Kalkulationen. Schilf kämpft gegen einen Deterministen, einen Ultra-Materialisten, der bei genauer Kenntnis eines Zustands sowie der geltenden Gesetze Vergangenheit und Zukunft exakt bestimmen kann und
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