Schilf
Konsequenzen von der Bühne stoßen kann. Er weiß, dass er verloren ist. Aber dieses Wissen hängt in der Luft, solange er nur in den Kategorien von Fernsehbildern an sein Verbrechen denkt. Alles, was ihm bevorsteht, seine Verhaftung, ein quälender Mordprozess, vielleicht eine Gefängnisstrafe, der Verlust seiner Familie – sein ganzes künftiges Elend scheint aus einer fremden Welt herüberzuragen, die keinerlei Rechte auf ihn besitzt. Wer nicht glaubt, was er getan hat, ist auch nicht in der Lage zu verstehen, was mit ihm und um ihn herum geschieht. Der größte Vorteil seiner Anwesenheit am Genfer See besteht darin, dass er nicht mitten in der Nacht gegen die Türen der Freiburger Gerichtsmedizin hämmern kann, um zu verlangen, dass man ihm den Kopf seines Opfers zeige.
Als wäre mit dieser Erkenntnis irgendetwas entschieden, lässt er den Motor an und wendet den Wagen.
In der Rue de la Navigation drückt er seinen Namen in die Klingel, kurz, lang, kurz-kurz, und muss nur wenige Augenblicke warten, um zu wissen, dass Oskar nicht zu Hause ist. In seine Jacke gewickelt, bezieht er Stellung im Hauseingang. Die Müdigkeit ist einer Unruhe gewichen, die Zeitungen durch die Straße treibt, einen klappernden Radfahrer vorbeihetzt, ein Martinshorn aufschreien lässt. Normalerweise liebt Sebastian die Aufregung, die seine Genfer Treffen mit Oskar begleitet. Jenseits aller Veränderungen haben Oskar und er der Vergangenheit eine Ecke abgetrotzt, in der ein Hauch von Unsterblichkeit weht. Wie ein Süchtiger ist Sebastian immer wieder hierhergekommen, weil er dort oben, in der Wohnung unter dem Dach, zu einem Gott wurde, zum Herrscher über sämtliche verwirklichten und unverwirklichten Möglichkeiten des Lebens. In dieser Mansarde befand sich die Quelle seiner Kraft und Lebendigkeit. Und jener Unruhe, die ihn jetzt von einem Bein auf das andere treten lässt.
Als eine Gruppe grölender Nachtschwärmer auf ihn zukommt, von einer großen Umarmung zu einem einzigen Wesen verbunden, und schon von weitem auf Deutsch nach dem besten Nachtclub fragt, stößt er sich von der Wand ab und verschwindet in der Dunkelheit.
Schon vor Jahren ist eine Neonröhre ausgefallen, so dass der blau leuchtende Kreis, der am Le cercle est rond das Türschild ersetzt, eben nicht rund, sondern an einer Seite offen ist. Weit in den Gehweg geschobene Mülltonnen und ein paar streunende Katzen halten die Touristen fern. Seit das Rotlichtviertel von Reiseführern als Geheimtipp empfohlen wird, spricht Oskar davon, sich eine neue Wohnung zu suchen. Im Cercle, pflegt er zu sagen, treffen sich die letzten Menschen auf dem Planeten, die das Haus verlassen, um nicht erkannt zu werden.
Der Raum wird von Kerzen erleuchtet. Sie stecken in Flaschenhälsen und zeichnen die Seelen der Menschen und Dinge als flackernde Schatten an die Wände. Die Tische sind eher für Bier trinkende Kartenspieler gemacht als für die gut gekleideten Männer, die zu zweit oder zu dritt bei Rotwein zusammensitzen. Die Gespräche sind leise und die Bewegungen vorsichtig, als gälte es, einander nicht zu erschrecken.
Sebastian schlägt den Ledervorhang am Eingang beiseite. Der Barkeeper, der unter der einzigen elektrischen Lampe Gläser spült, grüßt ihn nicht einmal mit den Augen, obwohl sie sich seit langem kennen. Oskar lehnt mit dem Rücken an der Bar, während vor ihm ein schmächtiger junger Mann mit runden Brillengläsern eifrig zu den eigenen Fußspitzen spricht. Ob Oskar ihm zuhört, ist nicht zu erkennen. Er steht reglos, die Beine gekreuzt, die Ellenbogen angewinkelt. Die Hände hängen in jener Mischung aus Gefälligkeit und Hochmut herab, mit der man einen Ring zum Küssen reicht. In der gleichen Pose könnte er im Morgennebel auf einer Lichtung an einem Baumstamm lehnen, das weiße Hemd leicht geöffnet, eine Pistole zwischen den Fingern.
Als er Sebastian entdeckt, erlaubt er sich nicht mehr als ein Heben der Augenbrauen. Trotzdem kann Sebastian sehen, wie sein Freund mit dem ganzen Körper erschrickt. Fast erwartet er, dass Oskar sich ans Herz fassen und in den Knien einbrechen möge. Er kennt diesen Mann ein halbes Leben. Nie zuvor hat er ihn auf diese Weise versteinern sehen.
Der bebrillte Junge hat von der veränderten Lage nichts bemerkt. Seine Augen wandern beim Sprechen hinter den runden Gläsern hin und her. Als er endlich den Kopf hebt, weil er auf eine Frage keine Antwort erhalten hat, stürzt sein Alter der achtzehn entgegen. Sebastian kennt die
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