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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wird! Sie sind die vernünftigste Person in dem ganzen Saustall. Sagen Sie mir nicht, dass ich mich in Ihnen getäuscht habe!«
    »Ist gut, Schilf.«
    »Der Mann ist unschuldig«, ruft der Kommissar.
    »Immer gern. Hauptsache, keine Verbindung zum Medizinerskandal.«
    Das Gespräch ist beendet, die Leitung tot.
    »Sie dürfen hier nicht rauchen«, sagt die Frau in der Schürze.
    »Verdammte Scheiße«, sagt Schilf.
    »Hier ist absolutes Rauchverbot.«
    Der Kommissar schaut ihr ins teigige Gesicht und zückt seine Dienstmarke.
    »Noch einen Espresso«, sagt er.
    Während die dicke Frau hastig zurück zur Theke rudert, sinkt ihm der Kopf in die Hände. Es ist fast unmöglich, nicht zu glauben, dass er soeben einen schwerwiegenden Fehler begangen hat. Er hält das Zigarillo zwischen Daumen und Zeigefinger. Asche fällt an seiner rechten Schläfe vorbei und landet auf dem Tisch. Es riecht nach verbranntem Haar.

6
    D a ist es wieder, das teigige Gesicht. Rasierte Augenbrauen, rot gefärbte Wolkenfrisur. Diesmal stellt es eine Art Bibliothekarin dar, die dem Kommissar unfreundlich entgegensieht. Ihre fleischigen Finger bewegen sich ohne Unterbrechung und mit hoher Präzision auf der Tastatur eines Computers. Hinter Schilfs Schläfen meldet sich das vertraute Pochen.
    »Sie wünschen?«
    Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Wahrscheinlich wünscht sich Schilf eine neue Rita Skura, eine, die nicht an ihre Karriere oder den schnauzbärtigen Polizeipräsidenten denkt, sondern allein daran, wie sie dem Ersten Kriminalhauptkommissar bei seiner Mission für Wahrheit und Gerechtigkeit helfen kann. Und er wünscht sich eine magere Bibliothekarin mit zurückgekämmtem Haar. Einen weitläufigen Raum, dessen Wände bis unter die hohe Decke mit Eichenholzregalen verkleidet sind. Selbstvergessene Wissenschaftler, die auf Leitern zu den zuoberst stehenden Folianten hinaufklettern. Grüne Lampenschirme auf antiken Arbeitstischen.
    Angewidert atmet Schilf den Geruch von frisch gereinigten Teppichböden ein. Zwischen Leichtmetallregalen, die den Raum in begehbare Zellen unterteilen, stehen dunkle Computermonitore. Er ist der einzige Gast. Das Gespräch mit Rita sitzt ihm wie Rheuma in den Knochen. Er sehnt sich nach etwas Lebendigem, nach Verständnis und Unterstützung. Vielleicht auch nur nach der Wärme eines frisch eingelassenen Bads.
    »Sie wünschen?«, wiederholt die Bibliothekarin langsam und deutlich. Vermutlich hat sie es nicht selten mit verwirrten ausländischen Forschern zu tun.
    »Quantenphysik«, sagt der Kommissar.
    Stummes Gelächter versetzt Kinn und Wangen der Frau in Schwingungen, woran Schilf erkennt, dass er einen Witz gemacht hat. Er verzichtet aufs Mitlachen.
    »Dann mal los«, sagt sie.
    Schilf hält sich gar nicht erst mit den Reihen von Büchern auf, deren Rücken Untersuchungen des kosmologischen Lambda-Terms oder des Missing-Mass-Problems androhen, sondern lässt sich gleich an einem der Computer nieder und tippt Sebastians Namen in das Katalogsystem. Die Liste ist lang. Schilf wählt zwei Publikationen, deren Titel mehr bekannte als unbekannte Wörter enthalten. Er schreibt die Signaturen auf einen Zettel und geht zurück zum Empfang. Die Bibliothekarin steckt sich eine Brille ins weiche Gesicht und watschelt auf die Zeitungsregale zu. Die spröde Gestaltung der Hefte, die sie aus den Kästen zieht, warnt Normalbürger vor dem Lektüreversuch. Schilfs Rücken dröhnt unter einem aufmunternden Schulterklopfen; dann lässt ihn die Bibliothekarin mit seiner Beute allein.
    »Everetts Mehrwelteninterpretation als Grundlage der Quantenkosmologie«.
    »Das fluktuierende Skalarfeld, i.e.: Die ewige Wiederkehr des Gleichen«.
    Mit einer gewissen Anstrengung schaltet Schilf die Frage nach dem Sinn dieses Unterfangens aus, spricht sich selbst Mut zu, wollen mal sehen, das wäre doch gelacht, und fängt an, den ersten Artikel zu lesen.
    Seit dem Telefonat mit Rita belästigt ihn das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben und mit allem, was er tut, zugleich etwas viel Wichtigeres zu unterlassen. In einem solchen Zustand funktioniert seine Methode nicht. Für das Vorbeischauen an den Dingen, das Horchen und Lauern darauf, dass etwas aus den Kellergeschossen der Realität an die Oberfläche steigen möge, braucht er vor allem eins: innere Stille. Jetzt bleibt ihm nur das Ringen um handelsübliches Begreifen, eine Disziplin, in der er es bestenfalls zu durchschnittlichen Erfolgen bringt. Aufgescheucht rennt sein Verstand an

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