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Schilf

Schilf

Titel: Schilf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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dessen wichtigste Fähigkeit folglich darin besteht, allem, was leben will, den Zeitpunkt und die Art des Untergangs vorherzusagen.
    Der Kommissar beschließt, den Computer mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er zieht die Füße auf die Couch und macht sich daran, sämtliche möglichen Züge und Gegenzüge zu berechnen.
    Als es hell ist, hat er seine Haltung um keinen Zentimeter geändert. Seine Überlegungen werden vom Nörgeln einer Motorsäge begleitet, die sich unten auf der Straße in dicke Holzleiber frisst. Die Regenmaschine hat ein paar Gänge heruntergeschaltet; schattenloses Licht lässt die Gegenstände im Raum kränklich aussehen. Gegen acht streckt der Kommissar die Beine und massiert sich den Nacken. Er hat keinen einzigen Zug gemacht. Dafür besitzt er jetzt eine vage Idee davon, aus welcher Richtung der nächste Schlag gegen den Widersacher geführt werden könnte.
    Auf der Straße geht er über einen Teppich aus nassen Sägespänen. Es riecht nach Zirkusmanege. Er steigt über abgerissene Äste und wirft auf dem Weg zur Haltestelle die beiden Karten in einen Briefkasten. In der Straßenbahn erzählen fremde Menschen einander mit leuchtenden Augen von den Schäden in ihrer jeweiligen Nachbarschaft und sind so glücklich, wie es nur eine Naturkatastrophe als das Comeback eines halb vergessenen Gottes bewirken kann.
    Schilf verlässt die Bahn in der Nähe des Physikalischen Instituts und nimmt einen Umweg über die Sophie-de-la-Roche-Straße. Der pazifistische Gewerbebach hat sich in einen schlammigen Strom verwandelt, der Unmengen von Blättern und Plastikflaschen mit sich führt. Bonnie und Clyde sind nirgendwo zu sehen. Gerade noch rechtzeitig kann sich Schilf hinter ein parkendes Auto ducken, als Sebastian um die Ecke biegt. Die Arme hat er eng um den Leib geschlungen. Er geht ohne Jacke, ohne Tasche, ohne Schirm. Er sieht aus wie ein Mann, der die halbe Nacht auf der Autobahn verbracht und danach zwei Stunden im Drehstuhl seines Institutsbüros geschlafen hat.
    Bist du also zu uns zurückgekommen, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
    Nur mit Mühe unterdrückt er den Impuls, Sebastian nachzulaufen.
    Wenig später steht er vor der verschlossenen Glastür der naturwissenschaftlichen Bibliothek, studiert die Öffnungszeiten und braucht eine Weile, um zu verstehen, dass Wochenende ist und er deshalb noch eine Stunde zu warten hat. Ergeben folgt er seinen eigenen nassen Fußspuren zurück durch das Gustav-Mie-Gebäude, findet die Cafeteria verwaist, aber immerhin geöffnet, und ruft mit lauter Stimme nach einem doppelten Espresso, bevor er sich an einen der frisch gewischten Tische setzt. Sein Telefon legt er vor sich und beide Hände flach daneben. Es vergehen kaum fünf Minuten, bis es klingelt.
    »Elender Verbrecher!«
    Schilf freut sich, dass Rita Skura bei der Wahl ihrer Beleidigungen darauf achtet, Wiederholungen zu vermeiden. Es tut gut, ihre Stimme zu hören.
    »Ihnen verdanke ich den absurdesten Sonntagmorgen meines Lebens«, sagt sie.
    Und klingt erleichtert. Schilf klemmt das Handy zwischen Schulter und Wange.
    »Guten Morgen«, sagt er. »Schönes Wetter, nicht wahr?«
    »Natürlich musste ich lügen«, sagt Rita unbeirrt. »Denn schließlich hätte ich den Täter früher oder später auch auf andere Weise liefern können.«
    »Versteht sich«, sagt Schilf. »Früher – oder eben später.«
    Ritas Schnauben bringt die Membranen des Lautsprechers zum Flattern.
    »Kennen Sie den Leitenden Oberstaatsanwalt?«, ruft sie. »Haben Sie mal versucht, einem solchen Typen Bedingungen zu stellen?«
    Der Kommissar kennt ihn nicht nur, er kann ihn sogar vor sich sehen, wie er, zusammengekauert im eigenen Körperfett, hinter einem Schreibtisch von präsidialen Ausmaßen hockt. Das Gelächter der Freiburger Justiz war bis nach Stuttgart zu hören, als sich der Leitende Oberstaatsanwalt, frisch im Amt, das gewaltige Möbelstück auf eigene Rechnung liefern ließ.
    Dieser Koloss von einem Mann hasst den sonntäglichen Bereitschaftsdienst. Außerdem hasst er den Sommer. Im Sommer laufen Frauen wie Rita Skura in geblümten Kleidern herum, während den Männern der Schweiß in den geschlossenen Hemdkragen rinnt. Wahrscheinlich hat der Leitende Oberstaatsanwalt die Kommissarin nicht hereingebeten. Anklopfen und Aufreißen der Tür sind im selben Moment zusammengefallen. Schon den Vorabend hat sie ihm mit Anrufen versaut; jetzt steht sie vor ihm, eine badische Jeanne d’Arc, hat sich selbst als ihr

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