Schilf
Oskar weiter. Dieser ist Sebastians Ausführungen mit einem Lächeln gefolgt, weniger spöttisch als amüsiert, wie ein Erwachsener neben einem altklug dozierenden Kind.
»Was Sebastian dargestellt hat«, sagt er, die Lippen dicht am Mikrophon, mit einer Stimme, die den Kommissar erschauern lässt, »ist ein bequemer Versuch, um Gott herumzukommen.«
Es wird geraunt, verhalten gelacht. Sebastian schaut zur Seite in die Kulissen, als ginge ihn die Situation mit einem Mal nichts mehr an.
»Das müssen Sie erklären«, sagt der Moderator, als Oskar keine Anstalten zum Weitersprechen macht.
»Ganz einfach.«
In der absoluten Ruhe des Sendesaals nimmt Oskar einen Schluck Wasser. Es ist nicht zu übersehen, dass er das Geschehen auf dem Podium beherrscht.
»Nach der Viele-Welten-Interpretation musste kein Schöpfer jemals eine Entscheidung treffen. Es gibt uns einfach, weil alles, was irgendwie möglich ist, irgendwo auch existiert.«
Seit dem Gespräch mit Sebastian arbeitet der Kommissar an einer Formulierung, die er selbst nicht ganz versteht und die er liebend gern mit den Männern auf dem Bildschirm diskutieren würde: Die Welt ist so, wie sie ist, weil es Beobachter gibt, die ihr beim Existieren zusehen.
Schilf bedauert ernsthaft, dass Fernsehaufzeichnungen keine Zwischenrufe erlauben.
»Das ist eine billige Erwiderung auf eine metaphysische Frage«, sagt Oskar. »Als naturwissenschaftlicher Ansatz völlig unbrauchbar.«
»Warum unbrauchbar?«, fragt der Moderator und hält mit einer Hand das erneut aufkommende Gemurmel des Publikums in Schach.
»Weil sich fremde Universen der experimentellen Überprüfung entziehen.«
Oskar lehnt sich zurück, als hätte er damit das letzte Wort an diesem Abend gesprochen. Gleichzeitig beugt sich Sebastian nach vorn und bringt das Mikrophon in Anschlag.
»So ist das nun einmal in der theoretischen Physik«, sagt er. »Auch Einsteins Ideen wurden teilweise auf dem Papier erdacht und erst später im Experiment bewiesen.«
»Um es mit Einsteins Worten auszudrücken«, entgegnet Oskar ruhig. »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.«
»Was ich hier darstelle«, sagt Sebastian, »wird von vielen anerkannten Physikern beschrieben. Stephen Hawking. David Deutsch. Dieter Zeh.«
»Dann haben Hawking, Deutsch und Zeh ebenfalls keine Ahnung von Physik«, sagt Oskar.
Während die Zuschauer protestieren, zeigt eine Großaufnahme Oskars lachendes Gesicht. Der arrogante Ausdruck ist verflogen; er sieht aus wie ein Schüler, der sich über einen gelungenen Lausbubenstreich freut. Die Kamera wechselt zu Sebastian, der den Kopf schüttelt und einen Finger hebt, um Redebereitschaft anzuzeigen. Schilf lehnt sich vor, bis seine Nasenspitze fast den Monitor berührt. Lass dich nicht provozieren. Verteidige keine Auffassungen, an die du nicht glaubst. Sag ihnen, dass es Zeit und Raum nicht gibt. Dass viele Welten und eine Welt dasselbe sind, wenn selbst Materie nicht mehr als die Idee ihres Beobachters ist.
Der Moderator bittet um Ruhe, damit Sebastian anfangen kann.
»Es scheint hier weniger um die Schnittmenge von Physik und Philosophie zu gehen«, sagt dieser, »als um jene zwischen Physik und Polemik.«
Gelächter zeigt an, dass der Saal wieder auf seiner Seite ist.
»Bei aller Freude an scharfen Worten …«
»Übrigens«, unterbricht ihn Oskar und legt einen Finger an die Wange, als wäre ihm gerade noch etwas eingefallen. »Nach deiner Theorie muss nicht nur der Schöpfer keine Entscheidungen treffen, sondern auch sonst niemand.«
»Im Gegenteil«, sagt Sebastian. »Einer der philosophischen Vorteile der Viele-Welten-Interpretation besteht darin, den freien Willen des Menschen erklären zu können. In einer linearen Zeit …«
»Jetzt kommt die Esoterik!«, lacht Oskar.
Die Kamera erwischt ihn zu spät und sieht ihn nur noch abwinken, als der Moderator ihn ermahnt. Schilf, der das Geschehen auf dem Bildschirm so genau verfolgt, dass ihm die Augen brennen, entdeckt ein Zucken in Oskars linkem Fuß.
»In einer linearen Zeit«, sagt Sebastian, »sind unsere Schicksale von der frühesten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft determiniert. Unsere Entscheidungen wären dann nichts weiter als biochemische Hirnprozesse, die den Gesetzen von Ursache und Wirkung unterliegen.« Er legt eine Kunstpause ein, bevor er fortfährt: »Nun stellen wir uns vor, dass alle denkbaren Kausalverläufe nebeneinander
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