Schilf
den Wörterbandwürmern entlang, gerät ins Straucheln, dann ins Fallen, verfängt sich in den Widerhaken eines halb durchsichtigen Satzes, »angewandt auf den Kosmos, führt der Quantisierungsapparat zur Annahme von allgemeinen Wellenfunktionen«, rutscht über den nächsten Absatz wie über nassen Boden. Stolpert über eine bekannte Formulierung, »alles ist möglich und irgendwo realisiert«, und landet vor Stringtheorie und Supersymmetrie wie vor einer undurchdringlichen Wand.
Schilf versteht kein Wort, er ahnt nicht einmal, worum es in Sebastians Ausführungen geht. Das Pochen des Kopfschmerzes wird zu einem Hämmern. Er legt die Zeitschriften beiseite und weckt den Computer. Auf der Startseite der Internetsuchmaschine entdeckt er eine Meldung über die erneute Inhaftierung des ehemaligen Schachweltmeisters Kasparow und fühlt sich, nachdem er den kurzen Text ohne Mühe gelesen hat, ein wenig besser. Hoffnungsvoll gibt er Sebastians Namen am Tor zur virtuellen Welt bekannt.
Gleich darauf leuchten ihm unter der Überschrift Zirkumpolar zwei Photographien entgegen. Sebastians jungenhaftes Lachen neben dem markanten Gesicht eines Mannes, den Schilf, wäre er der Regisseur einer Faust-Verfilmung, sofort für die Rolle des Mephisto unter Vertrag nehmen würde. Lange sieht der Kommissar die beiden Männer an, das Lachen und das Schweigen, das Wollen und das Warten, den weißen und den schwarzen König. Ein doppelköpfiges Orakel, denkt der Kommissar und braucht eine ganze Weile, um zu begreifen, was die Internetseite eigentlich präsentiert. Es wird eine Folge des Wissenschaftsformats Zirkumpolar zum Download angeboten; Untertitel: der Physikerstreit. Schilf rückt seinen Stuhl näher heran und drückt den Jetzt-ansehen-Befehl.
Im engen Gefängnis eines kleinen Abspielfensters sitzen Sebastian und Oskar auf ausladenden Sesseln. Zwischen ihnen stützt ein Moderator in demonstrativer Ungezwungenheit die Ellenbogen auf die Knie, während er seine einleitenden Worte spricht.
Einundzwanzigstes Jahrhundert. Ungeahnte Herausforderungen. Kreuzungspunkt zwischen Naturwissenschaft und Philosophie.
Wäre der Moderator allein auf der Bühne, würde er mit Brille, Bart und ungeschnittenen Haaren die landläufige Vorstellung vom genialen Wissenschaftler bebildern. Neben seinen beiden hochmütigen Gästen wirkt er einfach nur ungepflegt. Oskar lässt einen Arm über die Sessellehne hängen und begutachtet die polierten Kappen seiner Schuhe. Auf der anderen Seite schaut Sebastian mit trotzigem Ausdruck direkt in die Kamera und zuckt zusammen, als er das Wort erhält. So lange dreht er das schnurlose Mikrophon in den Händen, dass der Kommissar vor dem Bildschirm nervös wird. Endlich, ganz ohne Einleitung, beginnt Sebastian zu sprechen.
»Die Parallelwelten-Theorie beruht auf einer Interpretation der Quantenmechanik, nach der ein System gleichzeitig alle Zustände annimmt, die innerhalb der spezifischen Wahrscheinlichkeiten möglich sind. Die Elementarteilchen sind die Grundbausteine unserer Welt. Ihre Existenz bestimmt die unsere. Das könnte bedeuten, dass auch wir und die sichtbaren Dinge um uns herum in jedem Augenblick alle denkbaren Zustände annehmen.«
Durch deutliches Luftholen und ein leichtes Anheben des Mikrophons signalisiert der Moderator, dass mehr als drei lange Sätze in Folge selbst für ein öffentlich-rechtliches Publikum unzumutbar sind. Sebastian lässt sich nicht beirren. Über alle Grenzen hinweg nickt der Kommissar ihm zu.
»Wir dürfen uns das ruhig bildlich vorstellen«, sagt Sebastian. »Es gibt ein Universum, in dem Kennedy an seinem Schicksalstag nicht nach Dallas reiste und nicht erschossen wurde. Und eins, in dem es an meinem Geburtstag keinen Käsekuchen gab, sondern Schokoladentorte.«
Dankbar wird im Studio gelacht. Erst jetzt zeigt ein Kameraschwenk, dass die drei Männer auf der Bühne nicht allein im Saal sind. In einer Ecke des Bilds entdeckt der Kommissar das winzige Zeichen: live. Gebannt von der Erkenntnis, dass jener Sebastian auf dem Bildschirm noch keine Ahnung von der bevorstehenden Kehrtwende seines Schicksals hat, verpasst Schilf die nächsten Sätze und hört erst wieder zu, als Sebastian durch eine Handbewegung anzeigt, dass er mit den folgenden Worten zum Ende kommen wird.
»Alles, was möglich ist, geschieht.«
Das Publikum applaudiert. Durch Sebastians Inbrunst klingt die Aussage wie ein Heilsversprechen. Auch der Moderator deutet ein Klatschen an und gibt das Wort an
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