Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
Insekt.
Das lange weißblonde Haar klebte an ihren verschwitzen Wangen, und sie wirkte wie eine traurige Barbiepuppe. Ich konnte sie gut verstehen. Eigentlich wollte auch ich lieber schnell diesen unheimlichen Ort verlassen, und doch, irgendwie ... plötzlich fiel mir auf, was hier nicht stimmte. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, was es sein könnte. Als wenn mich ein eisiger Lufthauch gestreift hätte, bekam ich plötzlich eine Gänsehaut.
„Merkt ihr auch, wie still es hier ist?“, fragte ich leise.
Die anderen lauschten. Sie waren sich dessen scheinbar nicht bewusst gewesen.
„Stimmt“, bestätigte Anette und kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr.
„Das gibt es doch gar nicht“, sagte Barbara nervös, „wo sind denn die Urwaldgeräusche hin?“
„Ich gehe mal ein Stück zurück, die Treppe hinunter“, rief Karin und lief los.
Oh ja, fantastische Idee. Ich hatte bisher immer darauf geachtet, dass wir uns nie weit voneinander entfernten. Lernte man das nicht aus Kinofilmen? Doch es dauerte nicht lange, und wir hörten sie vor Anstrengung keuchend zurückkommen. Die Luftfeuchtigkeit war hoch, und jeder anstrengende Fußmarsch wurde schnell zur Qual. Das Dickicht vor uns zerteilte sich und enthüllte Karins gerötetes Gesicht.
„Unten, am Anfang der Stufen ist alles normal“, berichtete sie atemlos.
Sie stützte ihre Hände auf ihre Oberschenkel und machte eine Verschnaufpause. „Du machst zwei Schritte, und – peng – der Ton ist weg.“ Sie machte eine wegwischende Handbewegung.
„Dass uns das vorhin nicht aufgefallen ist“, bemerkte Anette.
Ich machte eine Kopfbewegung in Richtung Tempel.
„Wahrscheinlich war unsere Aufmerksamkeit bei etwas anderem.“
„Vielleicht ist die Gegend ja verflucht, und jeder, der die Toten stört, wird bestraft“, mutmaßte Barbara.
„Was für Tote?“, wollte Anette wissen. „Das sieht nicht nach einem Grab aus, eher nach einer Art Tempel, oder vielleicht ist es das alte Rathaus der Mayastadt, die hier zweifellos im Urwald begraben liegt.“
„Aber vielleicht haben sie hier Menschenopfer erbracht“, sagte Karin und neckte damit Barbara, die sich keinen Film ansah, der über die Brutalität der Sesamstraße hinausging.
Barbara knotete ihr langes Haar hinter dem Kopf zusammen und gab einen empörten Laut von sich.
„Also los, dann untersuchen wir den Tempel oder was auch immer es ist“, beschloss Anette und betrachtete eingehend die Zeichen an dem großen Eingangstor.
Ich stöhnte lustlos und trat etwas zurück, um vom Tempel einen besseren Gesamteindruck zu bekommen. War es Einbildung, oder umgab ihn ein schwaches Leuchten? Mich faszinierte ein rundes Motiv, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser. Ein Feuerrad oder ein Spiralnebel. Das Rad des Lebens, dachte ich prosaisch. Ich berührte es mit den Fingern. Es fühlte sich weich an und kribbelte an meinen Fingerspitzen. Einbildung? Ich zog die Hand zurück. Das Kribbeln war noch da. Ich drehte mich um und wollte den anderen davon berichten, als es mich plötzlich durchfuhr. Ich kannte dieses Symbol.
„Das ist ja unglaublich.“
Ich blickte abwechselnd auf meinen Ring an der rechten Hand und auf das Zeichen am Tor. Anette folgte meinem Blick und machte ein erstauntes Gesicht.
„Dasselbe Symbol. Faszinierend.“
Wir vergewisserten uns, dass ich mich nicht irrte. Ich hatte den Ring zusammen mit einem Kettenanhänger von meiner Großmutter geschenkt bekommen, als ich noch ein Kind war. Er war aus Silber und hatte eine runde Einlage aus Onyx mit einem eingekerbten Zeichen, das genauso aussah wie das an dem Tor. Bisher hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, es war lediglich ein Ring mit einem hübschen Muster, der mich immer liebevoll an meine Großmutter erinnerte.
„Das sieht nicht nach Zufall aus“, meinte Anette und sah mich mit großen Augen an.
„Also, deine mystische Ader in Ehren“, wehrte ich ab, „aber das bedeutet gar nichts. Wahrscheinlich kannst du dieses alte Symbol auf jedem Basar in Yukatan auf T-Shirts finden.“
Die dazugehörige Kette war mir noch im Flugzeug in Deutschland gerissen, und ich hatte den Anhänger in meine Rucksacktasche getan. Den ovalen Anhänger zierte das gleiche Symbol. Schmerzlich wurde mir dessen Verlust klar, nun war er für immer verloren. Wo hatte meine Großmutter den Schmuck wohl her? Vielleicht wusste meine Mutter etwas darüber. Ich nahm mir vor, sie danach zu fragen, wenn ich wieder zu Hause sein würde.
„Und was machen wir jetzt
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