Schischkin, Michail
mich bloß
aufgetrieben?
Sie ist
auch verheiratet und schon zweifache Mutter! Ihr Mann, vormals Offizier, hatte
Arbeit in den Renault-Werken gefunden, ist erkrankt und entlassen worden, nun
sind sie im Seebad Ahlbeck gelandet. Arme Tala! Sie arbeitet dort als
Wäscherin, hofft auf eine bessere Anstellung in einer Altenpension. Bessere
Anstellung, was soll das heißen?
Wie gern
würde ich sie sehen! Habe ihr gleich geantwortet, dass sie herkommen soll, ich
könnte ihr das Geld für die Fahrkarte schicken. Oder soll ich hinfahren? Weiß
nicht, was Ossik dazu meint. Er ist so in Sorge um mich.
Den ganzen
Tag an Tala gedacht. Sogar von ihr geträumt!
Am
Gymnasium damals, kurz vor der Geschichtsprüfung, versuchten wir die uns
zufallenden Fragen vorherzusagen, indem wir Nummern auf Zettelchen schrieben
und, ohne hinzuschauen, einen zogen. Tala zog die 2. Um sicherzugehen,
wiederholte sie das Orakel. Noch einmal die 2! Am nächsten Tag bekam sie die
Frage Nummer 22 gestellt! Richtig orakelt! Man konnte nicht umhin, daran zu
glauben.
Gott, wie
viele Jahre das her ist!
Unversehens
fiel mir heute wieder ein, wie wir Augenzeugen waren, als das Denkmal der Zarin
gestürzt wurde. Wir waren extra hingerannt, um zuzusehen, zerrten auch mit an
der Kette. Irgendwann gab es ein Knacken, Katharina wankte und krachte vom
Sockel auf die Brüstung - und alles schrie Hurra! Welch ein Hochgefühl! Ein
Schwerlastgespann beförderte das Standbild aufs 6. Revier - sozusagen in Arrest. Und dann kamen uns schon
Gymnasiasten, die wir kannten, mit Armbinden entgegen - MILIZ stand
darauf. Auch wir steckten uns und allen Passanten rote Schleifen an die Pelze,
Tala hatte sich gar mit einem Säbel kostümiert, der aus einem gestürmten Revier
stammte - eigenhändig einem grünschnäbligen Möchtegern-Milizionär abgenommen!
Wie groß
war der Jubel auf den Straßen, wie geläutert waren die Gesichter! Unsere große,
unblutige Revolution! Dass sie unblutig verlaufen war, freute alle, auch wenn
es hieß, eine Vorzeigehinrichtung wäre nötig gewesen - so wie zur
Französischen Revolution -, der Zar gehöre an den Galgen, müsse bezahlen mit
seinem Blut für das Blut des Volkes, oder nein, nicht an den Galgen, geköpft
solle er werden oder gepfählt!... Wie gelassen die Leute solche Reden führten,
kommt einem heute unheimlich vor.
Schon kurz
nach unserer Rostower Revolution kam dann ein Brief von Mascha aus Finnland:
von wegen unblutig! Boris sei in Haft, auf allen Schiffen seien Offiziere
exekutiert worden, besonders viele Tote habe es auf der Apostel
Andreas gegeben, wo Boris Dienst tat. Eine betrunkene Meute sei
bei ihr aufgekreuzt, auf der Suche nach Waffen. Tatsächlich hatte sie Boris'
Revolver bei sich, den sie noch schnell in den Spülichteimer warf. Sie fanden
nichts, zerschlugen nur das Geschirr. Die goldene Uhr und das Zigarettenetui,
die sie auf Boris' Tisch fanden, nahmen sie mit. In der Totenhalle fand Mascha
dann unter vielen anderen Offizieren ihren Mann - entstellt, mit
ausgeschlagenen Zähnen.
Meine arme
Mascha! Arme Tala! Ihr armen Mädchen alle! Jede hatte ihr Kreuz zu tragen.
Bloß gut,
dass diese Gräuel hinter uns liegen. Und für dich, Pünktchen, ist nur Gutes
vorgesehen, keinerlei Übel. Denn das war alles schon.
Wollte
spazieren gehen, doch das Wetter ist wieder zu mies. Ein hässlicher kalter
Regen, dazu Windböen.
Schlecht
geschlafen. Kopfweh den ganzen Tag.
Außerdem
ein schlechtes Gewissen, weil ich gestern Ossik angebrüllt habe. Seine
Fürsorge ging mir auf die Nerven. »Pass auf, da ist eine Stufe!«, hatte er
gesagt, weiter nichts, doch es genügte, dass ich explodierte: »Hör um Gottes
willen endlich auf damit!« - »Bellotschka, Liebes, reg dich bitte nicht auf,
ich bin ja schon still! Ich sage nichts mehr, kein Wort, aber du solltest nicht
so die Treppe hinunterhüpfen!«
Schäme
mich schon den ganzen Tag.
Er ist
doch unser Allerbester, Pünktchen! Wie komme ich dazu, auf einmal so garstig zu
ihm zu sein!
Habe es
mir mit einer Tasse Tee im Bett bequem gemacht und schreibe. Möchte an etwas
Angenehmes denken. An Tala zum Beispiel. Wie gern hätte ich sie hier!
Wenigstens eine vertraute Seele! Heute Morgen schrieb ich ihr einen langen
Brief. Fragte sie zuletzt nach ihrem Mann: Liebst Du ihn? Bist Du glücklich?
Und nun
denke ich darüber nach, was ich selbst auf diese Frage zu antworten hätte:
Liebe ich ihn? Bin ich glücklich? Ja. Ja.
Die
dreißigste Woche. Werde furchtbar schnell
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