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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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müde.
    In der
U-Bahn sitzend, dachte ich plötzlich: Mein Gott, wessen Beine sind denn das da?
Es waren meine: schlaff, angeschwollen, unschön. Jetzt verstand ich, was
Andersen mit seiner kleinen Meerjungfrau im Sinn hatte, die den Fischschwanz
gegen Frauenbeine eintauscht. Auch mir ist beim Gehen, als ob ich auf spitze Nadeln
und scharfe Messer träte. Eine Tortur.
    In der
U-Bahn ist mir heute beinahe schlecht geworden. Die Pariser Metro ist ein
Albtraum. Weiß gekachelt wie eine Sauna, die Luft auch danach. Es verschlägt
einem den Atem. Ich sah zu, dass ich aus dem hitzigen Schlund hinaus auf die
Straße kam. Da war es kalt und windig. Sich zu erkälten ist so nur eine Frage
der Zeit.
    Ich
schleppte mich nach Hause, zog mich aus und legte mich hin. Nachdem ich wieder
etwas bei Kräften war, erneute Spiegelschau.
    Was bin
ich hässlich geworden! Die weiße Haut - einst mein ganzer Stolz -, was geht mit
ihr vor? Der Arzt meint, das würde wieder vergehen; dass die Pigmentierung
während der Schwangerschaft zunimmt, sei normal. Zum Teufel damit! Und der
Nabel - nicht zum Ansehen! Er hat sich nach außen gestülpt, keine Ahnung,
warum. Als wäre mein Bauch ein Ball, der durch diese Blase aufgepumpt wird.
    Dieser
Verfall geniert mich. Früher spürte ich in mir immer eine katzenhafte Grazie,
nun scheine ich für den Rest meines Lebens als Pinguin herumwatscheln zu
müssen. Ich bin es so leid! Komme mir manchmal vor wie ein monströses Scheusal.
Wenn das doch bald ein Ende hätte!
    Iossif,
mein lieber, guter Iossif! Nahm mich auf den Schoß, drückte meinen Kopf gegen
seine Schulter. Redete und redete... Von meiner inneren Schönheit, dem
besonderen Leuchten. Mir fehlt der Glaube, doch es half.
     
    Das in der
U-Bahn verlorene Notizbuch: Flucht nach Ägypten. Und er stand auf und nahm das
Kindlein und seine Mutter zu sich bei der Nacht und entwich nach Ägyptenland.
Ebene, du weiße, Vollmond überm Land, Licht der hohen Himmel, Schnee - ein
Funkeln, zart. Grüne Signallichter. Lokomotiven schreien wie Möwen. Die Waggons
der ersten Klasse sind blau, die zweite ist gelb, die dritte grün, jetzt sind
sie alle mondfarben, mit Schnee auf dem Rist. Der Telegrafist ist
alleinstehend. Der Harsch ist schelfrig. Einmal im Winter sah der Telegrafist
eine Wolfsfamilie die Gleise kreuzen. Der Schatten des Vaters erscheint um
Mitternacht, läuft den Geheimtransport entlang, klopft mit dem Hammer gegen
die Bremsklötze, beugt sich hinab, wie um sich zu vergewissern, ob da auch
wirklich Westinghouse-Bremse steht und nicht etwas anderes,
aber nein, alles in Ordnung, er schwenkt die Taschenlampe, die Fahrt kann
weitergehen. Das Rattern entfernt sich, wird von der Stille geschluckt. Das
letzte Tuten eher ein kurzes Aufstoßen. Den Pfad zurück, wie ein Laufgraben in
die Schneewehen getrieben. Der Atem geht vollmondig. Kosmisch kaltes Knirschen
der Filzstiefel im Schnee. Der Mond eingefroren in einen Wolkenschleier. Als
guckte er durch eine Eisscholle. Und wie jeder Stern mit Sternen schweigt. So
viele Punkte und kein Strich. Komisch sich vorzustellen, dass unter demselben
Himmel einst Moses im Kästlein aus Rohr auf dem Nil ausgesetzt wurde. Das Leben
des Samuel Morse. Kapitel eins. Samuel Morse war Künstler. Die Erde ist ein
Kästlein, darin der Mensch auf der Milchstraße ausgesetzt wurde. Als Morse an
Bord der Sally aus Europa zurückkehrte, blickte
er durch das Fernrohr auf die Zukunft, nahm eine Seitenwindkorrektur vor. Im
Okular ein Flimmern. »Gott sieht auf uns mit demselben Auge, mit dem wir auf
ihn sehen«, schrieb Morse an seine Frau. »Liebste, wie viele Begriffe es gibt
für das Unsichtbare! Gott. Tod. Liebe. Was tun, wenn man das Nächstliegende
benennen soll, für das es doch keine Worte gibt? Beziehungsweise die, die es
gibt, absolut nichts erklären, nur verletzen können, garstig und schmutzig, wie
sie sind? Uns fehlen die Worte für den Zustand der Seele, erst recht den des
Körpers! Wie das beschreiben, was zwischen uns war? So beschreiben, dass man
ihm, diesem Wahren, Wundersamen, Wunderbaren, auch nur halbwegs gerecht wird?
Neue Wörter ausdenken? Punkte setzen oder Striche? Herrje, dann bestünde das,
was wir da küssten, doch wieder nur aus Zwischenräumen! Seele und Körper
riechen nach sich und dem, was sie zu sich nehmen, las ich irgendwo, ich weiß
nicht mehr wo. Treffend gesagt! Der Geruch der Seele. Eine Seele kann auch übel
riechen. Der Liebe aber kann nichts Übles anhaften, denn sie hat so gar

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