Schischkin, Michail
meint, es
wäre die dreckigste Stadt auf der Welt. Müll auf den Straßen und Gehwegen,
selbst eine Armee von Müllmännern käme damit nicht zurande. Und dieser Gestank!
Sowieso frage ich mich, warum die Leute alle so wild auf dieses Paris sind.
Paris ist nur eine Erfindung, Sehnsuchtsort - auch für die Pariser!
Heute
empfand ich besonders stark, wie mir die Zeit hier lang wird und die
Melancholie nach mir greift - so ohne Freunde, ohne Verwandte. Was tue ich
hier? Was habe ich hier zu suchen?
Ich sitze
wie in einem goldenen Käfig! Der nicht einmal besonders golden ist, eher
schlicht. Dieses kann ich mir nicht leisten, jenes kaufe ich lieber nicht...
Ljubotschka zum Beispiel bestellt ihre Kleider in Modehäusern, ich kaufe sie
von der Stange - spare mit jedem Franc.
Aber natürlich
geht es gar nicht ums Geld. Iossif fährt morgens zur Arbeit, und ich bleibe
allein. Allein mit meinen Gedanken, allein mit Paris, das mich nicht mehr
begeistern kann - den lieben langen Tag! Ich brauche Menschen! Ljubotschka und
die Petrows genügen mir nicht! Sie können mir die normale, menschliche Art der
Kommunikation, die mir fehlt, nicht bieten!
So wusste
Ljubotschka heute beispielsweise zu berichten, dass sich nachts auf einer Wiese
im Bois de Boulogne Autos versammeln. Nur teuerste Marken seien zugelassen,
mit einem schnöden Citroen 10 wäre man da abgemeldet - und in den Wagen sitzen
die Männer in Smoking und Plaid und die Frauen in Pelzrobe mit nichts darunter.
Sie entsteigen den Autos und geben sich auf der Wiese der Gruppenunzucht hin.
Die Autoscheinwerfer beleuchten die Szenerie, während die Chauffeure hinter
den Lenkrädern sitzen wie gemeißelte Skulpturen.
Und ich
sitze da und muss mir diesen Dreck anhören!
Zum x-ten
Male schon lese ich in der Bashkirtseff: Oh, wenn ich bedenke, dass man nur
einmal lebt und dass jede Minute uns dem Tod näher bringt, dann werde ich
toll!! - und meine Gedanken schweifen ab. Ich muss daran denken,
dass sie in dem Moment, da sie dieses schrieb, noch am Leben war, den Tod nur
fürchtete, aber jetzt, wo ich es lese, ist sie längst tot.
Und weißt
du, Pünktchen, worüber ich noch nachgedacht habe? Für dich ist all das, was uns
umgibt, noch gar nicht da. Aber wenn du als Erwachsener diese Zeilen vielleicht
einmal lesen wirst, ist das alles hier schon nicht mehr vorhanden.
Jetzt zum
Beispiel sitze ich am Fenster und schaue den Jungs auf dem Hof beim Spielen zu.
Sie haben ihren Jux mit ein Paar Krankenhauskrücken, hüpfen darauf herum wie
auf Stelzen. Wo mögen sie die aufgegabelt haben?
Vielleicht
bin ja auch ich dann schon nicht mehr da.
Sonderbar:
Für den, der das hier liest, existiere ich genauso wenig wie für mich die
Bashkirtseff, die mich von ihrer Todesfurcht wissen lässt, obwohl sie seit
Langem tot ist. Das ist also alles da und zugleich nicht da - beziehungsweise
nur da, weil ich es jetzt hinschreibe. Du zum Beispiel, Pünktchen. Oder diese
Hofkinder - von denen einer, der Älteste, jetzt die Krücken zur Seite
schwenkt, als wären es Flügel und er ein Flugzeug. Alle rennen ihm hinterher,
wollen auch fliegen.
Am Ende
lebt die Bashkirtseff nur deswegen noch, weil ihr Tagebuch überliefert ist und
ich es gerade lese?
Womöglich
bleibt auch von mir nichts als diese Zeilen?
Stimmt
nicht. Alles Quatsch. Du bleibst von mir übrig, Pünktchen!
Habe hier
länger nichts eingetragen. Eigentlich tue ich nicht viel, sitze zu Hause herum,
die Stunden ziehen sich in die Länge - doch letztlich bleibt für vieles keine
Zeit.
Pünktchen
ist schon 25 Wochen alt! Ich treibe Freikörpergymnastik, nach Möglichkeit
jeden Tag. Das sei gut für den Organismus, wird in dem Buch für werdende
Mütter behauptet. Mag sein - aber nur bei guter Laune. Ich ziehe mich nackt
aus, trete vor den Spiegel - wir haben einen großen im Flur mit schönem Rahmen,
da passe ich ganz hinein - und betrachte mich ausgiebig, gewissermaßen von der
Seite. So gesehen, komme ich mir schön vor, wie eine sanftmütige Matrone in
Erwartung des Sakraments. Die da bin ich und schon nicht mehr ich, sondern wir,
ich und du, Pünktchen. Wenn ich mich hingegen langweile und Trübsal blase, missfalle
ich mir außerordentlich!
Neuerdings
werde ich schnell müde: Nach dem Mittagessen lege ich mich gern ein halbes
Stündchen hin, das hat es früher nie gegeben. Und abends nach neun muss ich ins
Bett - wie eine Unterstufenschülerin - schlafen! Denn bekanntlich wachsen die
Kinder im Schlaf!
Wachse
schneller,
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