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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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Mensch wird leben, der mich
sieht... Soll das heißen, die Toten sind tot, weil sie ihm ins Gesicht gesehen
haben? Und alle Tempel sind des Todes und alle Gebete an ihn gerichtet?« Auf
Zehenspitzen kam der Schnee bis ans Fenster. Vor die Tür gehen, durchatmen,
den Rauch aus dem Schornstein steigen sehen, das tut gut. Stille, Windstille
auch, aber bald kommt der Neun-Uhr-Zug angebraust ohne Halt. Manche Züge fegen
hier durch mit zugehaltener Nase, andere lassen sich Zeit, beschnüffeln jeden
Mast. Der Schnee hat sich verzogen, ist nach Schablino reingeschneit, wo die
Milch mit der Axt gespalten und kiloweise verkauft wird, und schlafen tun sie
dort ohne Bettwäsche auf irgendwelchen Säcken. Einmal hat die Lehrerin Wäsche
gewaschen und auf den Hof gehängt, am nächsten Morgen sieht sie, jemand hat die
Wäsche von der Straße mit Dreck beschmissen, sie muss sie noch mal waschen. Der
Himmel ist ein Habenichts, der Friedhof ein Beklemm; wer vorbeiläuft, ist ein
Hund. Schon der Dekabrist Sawalischin machte aufmerksam auf die regionalen
Sitten und Gebräuche, Zitat: Liegt da eine Hündin, und ich sehe, sie leckt sich
das Gewisse. Jemand hat der Töle die Schamlippen beschnippelt, die Wunde ist
frisch und blutet noch, Kaschtanka leckt sie aus. So würden die Männer gefügig
gemacht, erfahre ich von der Wirtin: indem die Lippen unter Aufsagen
irgendwelcher Zaubersprüche ins Hackfleisch gemischt und dem Manne verabreicht
werden, von dem die Frau geliebt werden will. Im Fernsehen flehen die
Verwandten der Geiseln, man möge mit der Erstürmung noch warten. Aber es kann
jeden Augenblick losgehen. In ein paar Minuten wird es Tote geben, noch leben
sie. Der Agrotechniker, der sich betrank zum Tag des Panzersoldaten, welcher
noch dazu sein Geburtstag war (den Witz, er sei als Panzersoldat zur Welt
gekommen, riss er sein Leben lang), schlief ein mit brennender Zigarette und
verbrannte. Er hatte immer Angst gehabt, im Panzer zu verbrennen, und so
träumte er sich auch im Augenblick des Todes: brennend in seinem
Einsatzfahrzeug. Später saßen sie beim Totenmahl und aßen, was von der
Geburtstagsfeier übrig war. Hinterm letzten Haus das Schneemeer ist so lang
wie breit. Mittendrin eine Wechte, ein richtiges Kap. Dahinter aufragend die
Rauchsäulen des Dorfes: Fünfwandblockhütten in kleiner Flotte vom Fluss hin zum
Wald, nebenher eine Reihe von Unterschneebooten. Immer wieder irritierend, dass
uns die wichtigen Dinge - nehmen wir nur die hohe Gnade der Sakramente - in so
vulgärer Form zuteilwerden. In Form von Essen zum Beispiel: kauen und
runterschlucken. Oder durch Baden, untertauchen und fertig. Und selten blöd die
Erklärung, wie die Jungfrau ihr Kind gebar, ohne dass Spuren blieben, kein Riss
und keine Naht, alles so glatt und sauber wie das Schilfmeer, das sich für
Israel aufgetan und hinterher wieder geschlossen hatte. Durch das Fenster kann
man ein Weib die Straße langgehen sehen, auch so eine Maria, mitten auf der Straße
bleibt sie stehen, rafft den Rock ein wenig und verharrt so eine Weile - ohne
sich hinzukauern, im Stehen! -, dann geht sie weiter, zurück bleibt ein Loch im
Schnee mit gelber Umrandung. Schneeschulterklappen, Wintereinberufene. Die
Fastenzeit ist vorbei, alles heraus zur Schlittenfahrt: Burschen rodeln mit
ihren Mädchen wie eh und je auf »Donnerfladen« den Hügel herunter, das sind
aus Mist geformte Pfannen mit dickem, aufgebogenem Rand, ein knapper halber
Meter Durchmesser, die man mit Wasser übergießt und gefrieren lässt - du
konntest nicht an dich halten und segeltest, angesteckt von der allgemeinen
Fröhlichkeit, auch ein paarmal den Hügel hinab. Auf so einem Ding müsste man
der Zeit, diesem Herodes, entfliehen können! Vom Frost tränen die Augen, Nachtwolken
überlappen sich, ein Funkeln auf den Schlangenkörpern der Gleise. Hinter jedem
Fenster ein Paar: Liebuster und Liebille. Menschen gibt es auf Erden in
Wirklichkeit nicht gar so viele - am Tag der Auferstehung, da wird es auf ihr
erst richtig voll werden. So hat sich dieses Zimmer eingeprägt: Winter vor dem
einen Fenster, vor dem anderen blühende Fliederzweige, die eine Wolke
weiterstupsen. Flaschen überall längs der Gleise, aber keine enthält eine Botschaft.
Ein Streckenwärter am Bahnübergang: Bauernpelz, geflickte Filzstiefel,
Lammfellmütze, zwei eingerollte Fähnchen, ein rotes und ein grünes, unterm Arm,
die erloschene Laterne in Händen. Der Zug hat Fahrt aufgenommen, das Glas kommt
zur Flasche gerutscht. Die

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