Schismatrix
Westen.
Wellspring entdeckte Lindsay und kam freischwebend auf ihn zu. Seine stumpfschwarze Haarmähne wurde von einem Krönchen aus Kupfer und Platin zusammengehalten. Über dem grüngedruckten Blattmuster seines Umhangs sah man ein Armbanddeck, dessen Band laute Quasi-Musik abspielte: Das Raschem von Baumästen ... tierhafte Laute.
»Lindsay!« schrie er. »Lindsay! Wie wundervoll, dich wieder unter uns zu haben!« Er riß Lindsay heftig in die Arme, dann schnallte er sich auf einen Hocker. Wellspring wirkte betrunken. Das Gesicht war gerötet, er hatte sich den Kragen aufgerissen, und in seinem Bart schien irgend etwas herumzukrabbeln, anscheinend eine Kleinfamilie von Eisenfliegen.
»Wie war deine Reise?« fragte Lindsay.
»Ach, der Ring Council ist dermaßen öd! Tut mir leid, daß ich nicht hier war, um dich zu begrüßen.« Er gab dem Servoboter ein Zeichen. »Was trinkst du denn? Ein phantastisches Loch hier, dieser Marineris-Canyon, wie? Allein schon seine Seitenarme sind so riesig wie der Grand Canyon in Arizona.« Er fuchtelte über Lindsays Schulter zu einer Kluft zwischen bergsteilen Canyonwänden hinüber, an denen eisige Winde dünne ockerfarbige Staubwölkchen emporwirbelten. »Stell dir mal dort einen Katarakt vor, der sich in donnernden Bändern von Regenbögen abspult! Ein Anblick, der die Seele bis an die Wurzeln der Komplexität erbeben läßt.«
»Ganz gewiß«, sagte Navarre mit behutsamem Lächeln.
Wellspring wandte sich Lindsay zu. »Ich hab mir ein kleines spirituelles Exerzitium ausgedacht, für Zweifler, so wie unsern Yevgeny hier. Er müßte sich an jedem Tag vorbeten: Jahrhunderte ... Jahrhunderte ... Jahrhunderte. «
»Oh, ich bin Pragmatiker«, sagte Navarre, suchte Lindsays Blick und hob eine Augenbraue in bedeutsamer Weise. »Man lebt das Leben von einem Tag zum nächsten. Nicht in Jahrhunderten; keine höchste Begeisterung hält dermaßen lange stand. Fleisch und Blut vermögen so etwas nicht auszuhalten.« Er wandte sich Wellspring zu. »Deine Bestrebungen sind überlebensgroß.«
»Aber gewiß doch. Das müssen sie auch. Denn sie umfassen das ganze Leben.«
»Na, die Berater der Queen sind da praktischer.« Navarre beobachtete Wellspring mit halbargwöhnischer Verachtung.
Der »Rat der Königin« hatte sich seit den frühen Tagen des C.-K. mehr und mehr Autorität errungen. Und statt mit den Leuten um die Macht zu kämpfen, hatte Wellspring Ausweichmanöver betrieben. Und während inzwischen die Königlichen Berater sich mit der Alltagsregierung im Palast der Czarina herumschlugen, war Wellspring bemüht, seine Aufmerksamkeit den Dogtowns und Diskretionshabitaten zuzuwenden. Oft war er monatelang verschwunden, nur um dann mit gespenstischen Posthumanen und bizarren Rekruten im Schlepp aus den Randbezirken der Gesellschaft wieder aufzutauchen. Derartige Verhaltensweisen schienen Navarre eindeutig zu verwirren.
»Ich brauche nur die Tenüre«, sagte Lindsay zu Wellspring. »Nichts Politisches.«
»Ich bin sicher, daß wir das arrangieren können.«
Lindsay blickte sich um. Es überkam ihn plötzlich, aber mit überwältigender Überzeugungskraft: »Ich mag den Mars nicht!«
Wellspring machte ein ernstes Gesicht. »Es ist dir doch klar, daß ein ganzes künftiges Schicksal sich um solch eine unbedachte Augenblicksäußerung herum kristallisieren kann? Aus eben diesen kleinen nuclei freier Willensäußerung erwächst in geschmeidigen glatten Determinismen die Zukunft.«
Lindsay lächelte. »Ist mir zu trocken.« Aus der Menge drangen Laute der Überraschung und gespanntes Keuchen, als der Surveyor hastig einen gefährlichen Hang hinabschlitterte und die Welt in ein Butterfaß verwandelte. »Außerdem hat es für mich zuviel Bewegung.«
Wellspring war beunruhigt. Während der Mann seinen Kragen zurechtzupfte, bemerkte Lindsay die schwachen Spuren eines Zahnbisses an der Kehle. Er dämpfte den Wald-Soundtrack seines Armbands. »Eine Welt nach der anderen, das erscheint mir am vernünftigsten, meinst du nicht?«
Navarre lachte ungläubig dazu.
Lindsay beachtete ihn nicht weiter, denn er spähte über Wellsprings Schulter und inspizierte seine Schar von Jüngern. Ein Shaper-Jüngling in ellbogenflauschigem Akademikerüberkleid versenkte soeben seine elegante Visage in die wirbelnden rotblonden Locken einer jungen weiblichen Tigerin. Sie warf in verzücktem Lachen den Kopf nach hinten, und Lindsay sah - in SemiEklipse hinter ihr - das Schreckstarre Gesicht von Abélard
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