Schismatrix
flüstern.
Lindsay beachtete sie nicht. Er kreuzte mitten in der Luft die Beine und starrte auf die Wand. Wellsprings Jünger desertierten mit gemurmelten Entschuldigungen und Blicken zurück über die Schulter aus der Bar. Sogar Wellspring selbst war rat- und hilflos. Und als auch er dann ging, nahm er die letzten Gäste mit sich.
Lindsay war allein mit dem Bar-Servoboter, mit dem jungen Gomez und dessen Aufsichtsdoggen.
Gomez bewegte sich näher heran. »Also, Czarina-Kluster, das ist überhaupt nicht so, wie ich es mir daheim in der Republik vorgestellt hatte ... «
Lindsay meditierte angesichts der Landschaft.
»Die haben mir da diese Hunde auf den Hals gehetzt. Weil ich angeblich möglicherweise gefährlich sein könnte. Du hast doch nichts gegen die Hunde, oder? - Nein, ich seh schon, daß es dir nichts ausmacht.« Jung-Gomez stieß einen erbärmlichen zitternden Seufzer aus. »Drei Monate ist das jetzt, und die andern lassen mich noch immer nicht an sich ran. Sie wollen mich einfach nicht die Initiation für ihre Clique machen lassen. Du hast doch dieses Girl gesehn, ja? Melanie Omaha, die ist Doktor Omaha von der Kosmosität, was? Himmlisches Feuer, die ist doch eine Superwucht, oder? Aber sie hat nichts übrig für 'nen Mann, der unter den Hunden ist ... aber wer würde sich schon mit einem abgeben, wenn man weiß, daß der Sicherheits-Zwinger ihn observiert? Ach, Mann, ich würde meinen rechten Arm hergeben, wenn ich zehn Minuten in einem Diskretum mit der Frau sein könnte. Oh. Ach, tut mir leid.« Bestürzt betrachtete er Lindsays Prothesenarm.
Gomez wischte sich verschmiertes rotes Gesichts-Make-up von den Wangen. »Weißt du noch, wie ich dir das vom Abélard Lindsay gesagt habe? Also, die Leute quasseln da so, daß du der Typ bist. Und eigentlich, ja, im Grunde meine ich, daß ich das auch glaube. Du bist Lindsay. Du mußt es einfach sein.«
Lindsay atmete tiefer durch.
»Verstehe«, sagte Gomez. »Du willst mir sagen, daß das keine Rolle spielt. Daß das einzige, worauf es ankommt, die Sache ist. Aber dann hör dir mal das da an!« Er zog aus dem mit Weidenlaub bedrucktem Umhang ein Notizbuch. Er las - mit lauter verzweifelter Stimme: »Ein auto-organisiertes Dissipationssystem entsteht entlang einer kohärenten Folge von Raum-Zeit-Strukturen. Wir können zwischen vier unterschiedlich dimensionalen Grenzrahmen unterscheiden: Autopoiese, Ontogenese, Phylogenese, Anagenese ...« Gomez zerknüllte den Zettel in der Faust. »Und das ist ein Text aus meinem Poetik-Seminar!«
Es herrschte eine Weile Schweigen. Dann fuhr Gomez los: »Vielleicht ist das ja das Geheimnis des Lebens! Aber, verdammt, wenn das so ist, können wir es dann ertragen? Sind wir wirklich dazu fähig, die Ziele zu erreichen, die wir uns selbst stecken? Über Jahrhunderte hinweg? Aber was ist denn mit den ganz einfachen, den schlichten Dingen? Wie kann ich denn mich an einem einzigen normalen Tag freuen, wenn diese ganzen gespenstischen Jahrhunderte voller Spuk-Gespenster wie Blei auf mir lasten... Das ist doch alles viel zu riesig. Ja, auch du ... DU! Du hast mich hierhergebracht. Aber warum hast du mir nicht gesagt, daß du ein Freund von Wellspring bist? Aus Bescheidenheit? Aber du bist doch Lindsay! Lindsay in eigener Person! Im Anfang habe ich das einfach nicht glauben wollen. Aber als mir bewußt wurde, daß es die Wahrheit ist, war ich entsetzt. In Panik. Das war, wie wenn man plötzlich den eignen Schatten hört, der zu einem spricht.«
Gomez zögerte, dann sprach er weiter. »Diese vielen Jahre hindurch hast du dich versteckt. Bist in der Verborgenheit geblieben. Aber jetzt, jetzt kommst du doch ganz offen und ehrlich in die Schismatrix , nicht wahr? Du bist hervorgetreten und hast dich gezeigt, um Großes zu tun, um die Welt in Erstaunen zu versetzen... Es macht einem Angst, dich so nackt und unverhüllt zu sehen. Es ist, als sähe man das Skelett der Mathematik unter dem Weltenfleisch. Aber selbst wenn die Grundprinzipien wahr sind, was wird dann aus dem Fleisch? Und wir sind nun einmal das Fleisch! Was wird aus dem Fleisch? «
Lindsay hatte ihm nichts zu sagen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Gomez schließlich, »An der Liebe ist ihm das Herz gebrochen ... Es ist eine alte Geschichte ... Nur die Zeit kann ihn wieder zur Vernunft bringen. Sowas denkst du doch jetzt, nicht wahr? ... Und natürlich stimmt es.«
Als Gomez dann weiterredete, war er ruhig, eher nachdenklich. »Doch. Ja. Ich beginne zu verstehen.
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