Schismatrix
zu kümmern. Auch die Selbstzerstörung bedeutete Erlösung von der unausgesprochenen Qual. Die Zen-Serotoniker gaben das Potential preis, zugunsten einer bläßlichen seligen Seelenungetrübtheit und -stille. Andere empfanden die Spannung überhaupt nicht deutlich: Für sie war es nur ein leises beunruhigendes Zucken am Rand ihres Schlafes, oder es kam zu plötzlichen wilden Tränenausbrüchen, wenn die seelischen Hemmungen unter Alkohol oder Drogen zerbröselten.
Für Abélard Lindsay gehörte es zu seiner momentanen Manifestation, daß er im »Bistro Marineris«, einer Bar im Czarina-Kluster, an einen Tisch geschnallt dasaß. Das Bistro war eine schwerelose Ballonkugel an der Kreuzung von vier langen Straßentubussen, eine Art Halteplatz und Rastort inmitten der wuchernden Vernetzung von Habitaten, die den Campus des Czarina-Kluster-Kosmosity-Metasystems bildeten.
Lindsay saß da und wartete auf Wellspring. Er lümmelte über dem halbkugelförmigen Tisch und preßte die Sticktit-Ellbogenpatten seiner Akademikerjacke gegen die Velcrotischplatte.
Lindsay war inzwischen hundertundsechs Jahre alt. Die jüngste Rejuvenationsbehandlung hatte nicht sämtliche äußeren Merkmale des Alters zu beseitigen vermocht. Um die grauen Augen ein Gespinst von Krähenfüßen, und von den Nasenflügeln sackten Falten zu den Mundwinkeln ab. Überentwickelte Fazialismuskeln zerfurchten die dunklen beweglichen Brauen. Er trug einen dunklen Stutzbart, und die langen, von weißen Strähnen durchzogenen Haare wurden von edelsteinköpfigen Nadeln in Form gehalten. Eine seiner Hände war stark runzelig, die bleiche Haut wie Wachspergament. Die andere, die Metallhand, war von Sensorrastern durchzogen.
Er betrachtete sich die Wände. Der Besitzer des Bistros hatte die Innenfläche opakisiert und zu einer Art Planetarium verwandelt. Rings um Lindsay und das Dutzend anderer Gäste breitete sich die öde zerfurchte Marslandschaft aus, die live direkt von der Marsoberfläche in schmerzhaft lebhaften 360-D-Farben übertragen wurde.
Monatelang hatte der stämmige Robotsurveyor sich einen Weg entlang dem Rand der Volles Marineris gebahnt und seine Daten gesendet. Lindsay saß mit dem Rücken zu der gigantischen Schlucht: die titanenhafte Gewaltigkeit und der Eindruck von Ödnis, von altersloser Leblosigkeit, rief schmerzliche Assoziationen in ihm wach. Das Geröll der Vorberge in der Projektion auf der Rundwandung vor ihm, die gewaltigen hochragenden Gesteinsblöcke und windgemeißelten Yardangs wirkten auf ihn wie ein stummer Vorwurf. Es traf ihn als etwas völlig Neues, daß er so etwas wie Verantwortung für einen Planeten verspürte. Und nach dreimonatigem Aufenthalt in C.-K. probierte er diesen Traum noch immer an, um zu sehen, ob er ihm passe.
An einem Tisch in seiner Nähe koppelten sich drei akademische Angehörige der Kosmosität ab und katapultierten sich weg. Dabei entdeckte einer von ihnen Lindsay, hielt inne und kam dann zu ihm herübergerudert. »Verzeihung, Sir. Aber ich glaube, wir kennen uns. Professor Bela Milosz, wenn ich mich nicht irre.«
Dem Fremden haftete jenes unbestimmt arrogante Gehabe an, wie man es bei so vielen shaperischen Überläufern feststellen kann, so als lasse eine Art verschüttgegangener Fanatismus immer noch in ihnen die Zahnrädchen der Überheblichkeit surren. »Ich habe diesen Namen gelegentlich benutzt, ja.«
»Ich bin Yevgeny Navarre.«
Der Name löste ein fernes Echo aus. »Der Spezialist für Membranchemismus? Eine ganz unerwartete Freude!« Lindsay hatte Navarres Bekanntschaft auf Dembowska gemacht, allerdings nur über Video-Korrespondenz. In eigener Person wirkte Navarre trocken und farblos. Und Lindsay stellte als irritierenden zusätzlichen Erkenntnisschnörkel fest, daß auch er selbst während jener Jahre trocken und farblos gewesen sein müsse. »Aber bitte, setz dich doch zu mir, Professor Navarre!«
Navarre klinkte sich ein. »Es war sehr liebenswürdig von dir, daß du dich an meinen Beitrag für dein Journal erinnern magst. Oberflächenspannende Vesikularagentien der Exoarchaeosaurischen Kolloidkatalyse. Eine meiner frühen Arbeiten.«
Navarre verströmte zurückhaltende Befriedigung und gab dem Servo des Lokals ein Zeichen, der auf multiplen Plastikstelzen angestakst kam. Der modische Servobot war ein exaktes MiniaturModell des Mars-Surveyors. Lindsay bestellte, höflichkeitshalber, einen Likör.
»Wie lang bist du schon in C.-K., Professor Milosz? Aus deiner Muskelstruktur
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