Schiwas feuriger Atem
Zeiten besaß, die aber heute nur noch künstlich erhalten wurde, fast wie ein Wahrzeichen.
Er hatte sich entschlossen, die letzten paar Stunden hier zu verbringen, im Herzen Londons, dem Brennpunkt einer langen Spanne seines Lebens. Jetzt war es an der Zeit, auf die ganz große Sensation zu warten.
Nach Trafalgar zu fand er die Straßen praktisch leer. Offenbar waren die meisten Leute draußen auf dem Lande; dort fühlten sie sich vielleicht sicherer. Gewiß, wenn die Lebensmittelversorgung noch schlechter wurde, konnte man überhaupt nicht mehr in der Stadt leben. Oder vielleicht waren sie in den Kirchen oder saßen vor den Fernsehschirmen und lauschten den endlosen Kommentaren der Medienreporter.
Als er sich Charing Cross näherte, hörte er das ferne Brausen einer Menschenmenge. Hier waren mehr Leute auf den Straßen; manche gingen sehr schnell, ihre Schuhe knirschten auf den Glasscherben von der letzten Plünderung. Als er an der National Gallery vorbeikam, verglich er seine Uhr: Es war noch reichlich Zeit.
Als er wieder aufsah, blieb er unvermittelt stehen. Trafalgar Square war voller Menschen aller Rassen und Klassen. Sie schwenkten Fahnen und Kreuze. In der Mitte, direkt hinter der hohen Säule mit der Nelson-Statue, brannte ein riesiges Holzkreuz. Der Wind sprang um und brachte Ölgeruch; er mußte die Augen zumachen, als er in den Qualm sah, der von jenem Kreuz hochwirbelte.
Hing dort oben ein Mann? Er konnte es nicht genau erkennen und ging weiter. Jemand rannte an ihm vorbei, stieß gegen seine Schulter und eilte weiter.
Kingsley blieb am Rande der Menschenmenge, im Streit mit sich selbst, ob er hierbleiben sollte. Menschenansammlungen waren ihm unsympathisch, besonders solche, die feindselige Schwingungen ausstrahlten. Aber Versammlungen auf dem Trafalgar Square hatten Tradition, also war nicht zu verwundern, daß die religiösen Typen stark vertreten waren. Er arbeitete sich durch die dichter werdende Menge auf eines der Londoner Bauwerke zu, die er am meisten liebte, die Kirche St. Martin-in-the-Fields.
Die Kirchenmauer war mit roter Farbe bespritzt.
Aber – war es wirklich rote Farbe?
Kingsley arbeitete sich durch die Masse der anbrandenden Menschenleiber näher heran, kam jedoch nicht durch und mußte in Richtung auf die National Gallery zurückweichen.
Ein anglikanischer Geistlicher stieß ihn grob beiseite und murmelte dann eine hastige Entschuldigung durch die zusammengebissenen Zähne. Kingsley sah, daß die beiden Springbrunnen auf dem Square nicht in Betrieb waren; Leute in ihren schmutzigen grauen Roben mit langen flatternden Ärmeln tummelten sich dort. Als er nach Süden blickte, sah er, daß der Strand voller Menschen war.
Dann sah er riesige Banner. Sie waren am Dach der National Gallery angebracht und hingen hinunter, bedeckten den größten Teil der Gebäudefront und blähten sich in der leichten Brise, hellblaue Streifen mit einem großen weißen Kreis in jedem. In den Kreisen überlebensgroße Gesichter: Jagens, Menschow, Lisa Bander.
Kingsley starrte in ihr Gesicht. Es war ihr nicht sehr ähnlich, doch irgendwie hatte der Maler den Schatten eines Lächelns um ihre Mundwinkel getroffen. Er sah es sich genau an und wandte sich dann ab. Die Banner machten ihn nervös; es war, als starre sie ihm direkt ins Gesicht.
Die Menschenmenge wurde immer erregter. Er blickte zum Himmel auf. Hier in England würde es mittlerer Nachmittag sein, wenn Bolschoi detonierte. Die Menschen im Westen der Vereinigten Staaten würden ihn bei Morgengrauen sehen, und den Sowjets würde ihre Armageddon-Bombe als ferne Abenddämmerung aufleuchten.
Kingsley verließ den Trafalgar Square und wandte sich, Gruppen parolenschreiender Menschen ausweichend, zur National Gallery. Auf einmal verstummte das Geschrei, plötzliche Stille fiel ein, nur ein zischender Laut war zu hören, als Tausende gleichzeitig tief Luft holten.
Und dann, hoch in der Schale des Himmels, brach ein kleiner gelber Blitz auf. Ein Brüllen aus der Menge antwortete. Der Feuerball verblaßte und verschwand. Hier und da kamen Hurrarufe aus der Menge, aber neben freudig erregten auch wütende Rufe. Die Stimmung war geteilt. Um die Besitzer von Transistorradios drängten sich Trauben von Zuhörern. Ein Murmeln stieg aus der Menge und brandete auf in einzelnen Schreien: »Es war nichts!« Wieder Freudenrufe, aber viele stöhnten verzweifelt. Es kam zu Schlägereien, einem Mann wurde mit einem rostigen Bajonett der Bauch aufgerissen;
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