Schiwas feuriger Atem
anderen Pyramiden auch, ein riesiges Grab.
Am Tage vor dem Einschlag würden die Arbeiter – sie kamen aus vielen Ländern und vielen Klassen, von analphabetischen Dockarbeitern bis zu fetten libanesischen Bankiers – das Los ziehen. Der Gewinner und seine Familie oder die von ihm Auserwählten würden sich in die verborgenen Kammern legen, inmitten von Gold und Juwelen; Vakuumpumpen würden die Luft aus der versiegelten Kammer saugen. Dort würden sie ruhen auf immer, unberührt vom langsamen Verrotten der Welt, bestattet in lasergeschnittenem Stein, einbalsamiert, befreit von Schiwas Faust.
27. April: Kollison minus 29 Tage
»Mein Sohn, die Aussicht von diesem Hügel ist wunderbar.«
»Si, das stimmt.« Diego scharrte mit den Zehen im sandigen Weg. Sie standen an der Familiengrabstätte. Hinter ihnen lag Bakersfield. Wie in einem kniehohen Walde standen sie zwischen den ausgebleichten, weißen Grabsteinen dahingegangener Arbeiter, Bauern, Schreiber, Kinder. Keiner der Namen, die in schwungvoller Schrift auf den Steinen standen, war angloamerikanisch. Auf manchen Steinplatten standen einfach nur der Name und die Daten; andere trugen einen kurzen Bibelspruch oder einen Segen. Auf einem stand sogar die revolutionäre Parole einer längst vergessenen politischen Bewegung. Sehr viele Kreuze gab es, manche aus Holz, mit gemalten Bildern, die Namen von fleißiger Hand ausgenagelt, die Nagelköpfe längst verrostet. Engels- oder Heiligenstatuen gab es nur wenige; solche Bildwerke sind teuer. Reichtum war hier sehr selten.
Direkt zu Diegos Füßen lag die Grabplatte seines Großvaters, rauh behauener Granit, schwer, zeitlos. Die flache Oberfläche war fast spiegelglatt, schimmernd, unwirklich. Sein Großvater war runzlig und lederig gewesen, hatte nach Mist und Tabak gerochen. FRANCISCO DIEGO CALDERON.
Der Name seiner Großmutter, nach Sitte und Brauch darunter eingeritzt, wirkte fast wie ein Gedanke im nachhinein, wie eine Fußnote. Zu beiden Seiten waren Diegos Großonkel und -tanten aufgereiht, die er nur von langen Familientreffen, am Sonntag nach der Messe, im Gedächtnis hatte, unbestimmte Gestalten, die ihr Bier nippten, wenn er draußen mit seinen Vettern und Basen spielte. Alle hatten sie ein feierliches, süßlich riechendes Begräbnis bekommen, an das sich Diego nur erinnerte, weil er nicht ruhig sitzen konnte und immer mit seinen Nachbarn flüsterte, so daß er schließlich hinausgeschickt worden war.
Das Begräbnis seines Vaters jedoch sah er noch in allen Einzelheiten klar vor sich: welkende Blumenkränze, Tanten in schwarzer Spitze wie Komparsen beim Film. Die dumpfe, wie in Schichten liegende Zimmerluft, der polierte Sarg, der schimmernde Satin, die Kerzen, das Rascheln der Röcke, wenn sich die Frauen hinknieten. Der Priester, feierlich, braun, reichlich Weihwasser versprengend. Das merkwürdige Gefühl um die Augen.
Diego ging ein paar Schritte weiter. Der Stein seines Vaters war nicht einmal bestaubt. Für den Namen seiner Mutter war noch gut Platz. »Hier werde ich liegen«, sagte sie hinter ihm. »Es ist noch viel Raum.«
»Ja.« (Wenn wir es nicht schaffen, werden viele überhaupt nicht begraben werden, weder in geweihter noch in profaner Erde.)
Und die Aussicht von hier oben ist gar nicht so schön, dachte Diego. In der Ferne schnitt ein Hohlweg eine Schlangenlinie durch die zerrissene Landschaft. Niedriges Gebüsch schmiegte sich an den trockenen steinigen Boden.
»Viel«, nickte sie mit tiefer Überzeugung. Vorsichtig ließ sie sich auf ein Knie nieder, staubte den Stein ab, legte ein Sträußchen darauf und betete still.
Erwartet sie von mir, dachte Diego, daß ich meine zwei Meter abschreite und Pflöcke in die Ecke stecke, mir einen Platz reserviere vor dem großen Andrang?
»Bald werde ich hier liegen.«
»Nein, Mutter.«
»Ich bin eine alte Frau.«
»Nein, das bist du nicht. Keineswegs …«
»Doch.« Energisch schüttelte sie den Kopf; dieses Stückchen Eigenpersönlichkeit wollte sie sich nicht nehmen lassen. »Und dann noch dieses Ding vom Himmel. Bald werde ich hier sein.«
Diego wollte etwas auf Spanisch sagen, doch er stockte nach dem ersten Wort. Seine Eltern hatten ihm eine Regel beigebracht: Innerhalb der Familie wurde nur Englisch gesprochen. Auf der Straße mußte man auch Spanisch sprechen, doch nicht zu Hause. Diese Welt gehörte den Angloamerikanern, und ihre Sprache war der Schlüssel zu ihr.
»Es wird nicht kommen,
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