Schiwas feuriger Atem
»Alle Rechtschaffenen werden zusammenstehen.«
»Daddy«, piepste seine Tochter, »heißt das, diese Steine können auch hier bei uns runterfallen?«
Er sah auf sie hinab und spürte, daß die Luft im Zimmer dick und schwer wurde. Das Summen der wartenden Stadt brodelte an die Fenster. Die ganze Welt stand dicht um dieses Haus gedrängt und erwartete seine Antwort. Seine Kehle war rauh, wie mit kratziger Wolle gefüllt. Sind sich Menschen einer Zeitwende dieses Zustandes bewußt? Es mußte doch wohl so sein.
»Meine Tochter, dieses Gestein des Himmels wird überall fallen.« Seine Armbewegung erfaßte die ganze Welt. »Alle jene falschen Mächte werden verbrennen und verkohlen und zerschmettert werden. In Trümmern werden unsere großen Städte liegen. Unsere eitlen, komplizierten Maschinen werden zerspringen und versagen.«
»Und wir… ?« fragte seine Frau mit dünner Stimme, die Hand in den Brustfalten ihres Kleides verkrampft. Er sah, daß ihre Unterlippe zitterte und daß sie rote Flecken im Gesicht hatte. So war es häufig, wenn Menschen ihm zuhörten: Aus ihren Gliedmaßen wurde das Blut abgezogen und stieg ihnen in die Gesichter; so groß war die Kraft der Wahrheit, die von ihm ausging. Wenn das geschah, dann wußte er: wieder einmal war er, nach dem Willen des Herrn, Sein Gefäß.
»Rückkehr zum einfachen, harten Kampf ums Überleben. Für einige wenige Gesegnete des Herrn.« Seltsam, wie seine Stimme den Raum füllte, alles andere flachdrückte, selbst das menschliche Fleisch.
»Was… was ist, wenn ein Stein hierher fällt, Daddy?« fragte sein Sohn.
»Dann sterben wir«, sagte Kress mit abschließender Geste. »Doch wir werden untergehen im Dienste Gottes, mein Sohn.«
Sie verstummten. Er spürte, daß sie sich von ihm zurückzogen. Angst flackerte in ihren Gesichtern. Er lächelte vergebend. Draußen summte die Stadt, er konnte es hören, unterschied sogar einzelne schwache Rufe. Fast körperlich fühlte er die Nähe der Menschen, welche die Wahrheit hören wollten, die sich verzweifelt an das Wort klammern konnten, wenn es ihnen nur dargebracht wurde. Wenn sie es fühlten, wirklich fühlten, dann würden sie sich von den Wissenschaftlern und ihren kümmerlichen Versuchen abwenden. Sie würden die natürliche Ordnung der Dinge hinnehmen. Sie würden bereit sein, die neue Welt zu empfangen, die ihnen der Herr brachte, die Er ihnen mit Seinem himmlischen Feuer gab.
Doch plötzlich begriff er, daß er mit erneuerter Kraft, mit vervielfachter Stimme, in Überlebensgröße sprechen müßte, um an die Menschen heranzukommen. Er würde durch die gottlose Sirenen-Apparatur des Fernsehens sprechen und die Illusion der Wirklichkeit für seine Zwecke benutzen müssen. Für die Zwecke des Herrn. Er würde sein Letztes, sein Äußerstes geben müssen, um das Wort wahrhaft in die Welt zu tragen; dessen war er sicher. Seit Jahren sprach er in Kirchen und Evangelisations-Zelten, auf der Straße, im Park; aber das hier war mehr, viel, viel mehr. Und hier, in seinem, vor seiner Familie mußte er beginnen, sich üben, das Schwert schleifen, das er schwingen würde.
»Ja!« stieß er hervor, und die Stimme rollte aus seiner Brust, »wir müssen bereit sein zum Tode. Das sagen uns die Feuer-Steine.« Unsicher sahen sie zu ihm auf. Offene Gesichter. Tafeln zum Beschreiben. Weit breitete er die Arme aus, Handflächen nach oben. »Kommt, lasset uns beten!«
Sie vernahmen es und neigten die suchenden Gesichter. Douglas Arthur Kress spürte aufs neue, wie die Kraft in ihm aufquoll, in ihm tanzte und sang. Ein Freudenschauer rann über seine Haut. Die Elektrizität des Geistes. Geistige Erlösung. Ja. Amen.
Die Erhebung schärfte seine Sinne. Alles wurde heller, klarer: die abgewetzten, etwas durchgetretenen Dielenbretter vor dem 3D-Fernseher, der Fleck an der Wand bei der Küche, das schlecht reparierte Stuhlbein, der Pickel am Kinn seines Sohnes. Er blickte auf, sah die Lampe mit der schwachen Birne, die Schatten, die Flecken.
Er hatte, wie es Menschen in großen Augenblicken geschieht, sich selbst gefunden. Er hatte die größte Aufgabe von allen gefunden – den Dienst des Herrn.
»Lasset uns beten.«
5. August: Kollision minus 9 Monate, 21 Tage
Mit einer schwarzen Videokassette in der Hand kam Myron Murray eilig herein. »Sir, das ist eben gekommen«, sagte er sichtlich aufgeregt und schritt zu dem Vier-Schirme-Komplex an der einen Seite des Oval Office. Er stieß den Schieber auf, der einen
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