Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
die Aggressivität von Nina und den Anblick der anorektischen Mädchen. Hinzu kommt Lenas wechselndes Verhalten zwischen Schluchzen und Schreien und aggressiven Vorwürfen gegen mich.
Die Pfleger und Sozialarbeiter in der Jugendpsychiatrie machen auf mich einen viel zu entspannten Eindruck. Unbeirrt vom Schreien, Weinen und Streiten der Jugendlichen trinken sie Kaffee und unterhalten sich über ihre Wochenenderlebnisse. Weil ich das Gefühl habe, dass sich niemand wirklich um Lena kümmert, komme ich jeden Tag. Ich will sie nicht alleinlassen.
Ich bin mir nicht sicher, ob Lena in der Jugendpsychiatrie in guten Händen ist und lasse daher mein Handy permanent angeschaltet, damit sie mich immer erreichen kann. Bei jedem Klingelton schrecke ich auf. Wird es wieder eine schlimme Nachricht sein? Oft ist es eine kaum verständliche, schluchzende Lena, die sich bitterlich über die anderen Jugendlichen oder die Ärzte beklagt. Ich nehme ihre Klagen ernst und telefoniere mit allen mir bekannten Ärzten, um ihnen Lenas Situation zu schildern. Sie sind oft freundlich, aber ich habe nicht den Eindruck, dass sie meine Sorgen nachvollziehen können. Nächtelang grübele ich, ob ich Lena aus der Klinik holen soll. Aber ich bin verunsichert. Schizophrenie ist eine so ernste Krankheit, dass ich befürchte, etwas falsch zu machen, wenn ich sie gegen den Rat der Ärzte von dort weghole. Ihre Situation könnte sich verschlechtern. Außerdem weiß ich nicht, welches Krankenhaus besser wäre. Lenas Krankenhaus hat einen guten Ruf, wird mir von Ärzten bestätigt. Meine Tochter ruft mich Tag und Nacht an. Oft werde ich nachts um drei aus dem Schlaf gerissen, und Lena sagt mit der tiefen und leicht benommenen Stimme, die sie durch die Tabletteneinnahme hat, dass sie nur mal meine Stimme hören wolle. Ich bin todmüde, glaube aber, immer für sie da sein zu müssen. Morgens stehe ich dann wie gerädert auf.
Wenn eine psychische Krankheit in das Leben einbricht, glaubt man zunächst, die Welt stehe still und alles drehe sich nur noch um die Erkrankung. Ich war der Meinung, dass mein eigenes Leben aufgehört habe. Aber das Leben geht weiter. Meine Firma wächst, ich habe inzwischen 15 Mitarbeiter. Der große Auftrag verlangt ständige Bereitschaft und Präsenz, aber die täglichen Anforderungen des Jobs helfen mir auch. Ich stehe morgens um 5 Uhr auf, verberge meine Augenringe mit Make-up, verwandele mich in eine erfolgreiche Businessfrau mit Blazer, Pumps und rotem Lippenstift und fahre 45 Minuten durch den morgendlichen Stau zu meinem Büro. Von morgens um 8 bis abends um 22 Uhr Besprechungen, Coaching und Seminare und zwischendurch immer wieder Anrufe von Lena, die ich trösten muss und die mich fragt, wann ich endlich komme, und mir auflistet, was ich mitbringen soll. An mindestens drei Tagen in der Woche muss ich in andere Städte fahren, um Seminare zu halten. Das bedeutet oft: noch früher aufstehen, lange Fahrzeiten im Auto, lange Wartezeiten an Flughäfen und spätabends nach Hause kommen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich Lena in dieser Zeit nicht jeden Tag besuchen kann. Ein schlechtes Gewissen, das von der Außenwelt sorgfältig genährt wird. »Wenn mein Kind oder meine Eltern krank wären, dann würde ich sofort mit jeder Arbeit aufhören und mich nur um sie kümmern!«, sagt ein Freund von Lena, bei dem sie sich beklagt hat, dass ich mich nie um sie kümmern würde, seit ich sie in die »Klapse« eingesperrt hätte. »Das ist ja ein Gefängnis«, sagt eine Freundin, »du musst Lena sofort hier wegholen und sie zu Hause betreuen!« Solche Vorwürfe treffen mich tief. Soll ich mein Unternehmen aufgeben? Aber wie komme ich aus dem zehnjährigen Mietvertrag? Wie soll ich Geld für mich und Lena verdienen? Was, wenn ich durch einen Zusammenbruch arbeitsunfähig werde? Ich weiß, dass ein Unternehmensberater schnell zu ersetzen ist, wenn er Schwächen zeigt. Jeder wird für meine schwierige Situation Verständnis haben, aber niemand wird mich weiterhin bezahlen. Auch nicht alle Ärzte haben Verständnis für meine berufliche Situation. Ob ich nicht früher kommen könne, werde ich gefragt, gerade als Selbständige könne ich mir das doch gut einteilen. Die Ärztin kann sich nicht vorstellen, dass jede Stunde, die ich nicht arbeite oder in der ich übermüdet bei Klienten auftauche, meinen Auftrag oder gar meine berufliche Existenz gefährden kann. Für Ärzte scheint es selbstverständlich zu sein, dass die Zeit für
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