Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
von Lena nicht so behandeln lassen.« »Du bist völlig inkonsequent. Mal sagst du, dass du jetzt nicht mehr ans Telefon gehst …, ihr kein Geld mehr gibst …, sie nicht mehr nach Hause fährst …, und dann tust du es doch immer wieder.« Es fällt mir schwer zu glauben, dass diese Bemerkungen immer liebevoll oder hilfreich gemeint sind. Eher schwingt eine Kritik mit, dass ich etwas falsch gemacht habe, so dass Lenas Krankheit gar nicht ausbleiben konnte, oder dass ich jetzt etwas falsch mache, das Lenas Genesung nicht hilft. Es stimmt, ich bin inkonsequent. Aber es stimmt auch, dass es sehr, sehr schwer ist, konsequent zu bleiben, wenn man seine kranke, psychotische, angstvolle, schreiende oder nach einer Zigarette wie nach einem Schuss gierende Tochter vor sich hat. Und wenn man absolut ahnungslos ist, was in so einer Situation angebracht ist.
Vielleicht reagieren andere Mütter anders auf die Erkrankung ihres Kindes. Vielleicht fällt es anderen Müttern leichter, Grenzen zu setzen. Wenn ich aber die totale Erschöpfung vieler Angehöriger sehe, habe ich da meine Zweifel. Frau Dr. E. jedenfalls macht mir keine Vorwürfe. Sie kann mich verstehen und will mir helfen. Für mich ist das Verständnis dieser Ärztin wichtig. Ich brauche jemanden, der mir die Krankheit und die Relevanz bestimmter Symptome erklärt. Auf die Frage, ob ich das Zimmer von Lena aufräumen oder alles einfach Lena überlassen solle, sagt sie: »Sie müssen sich vorstellen, dass in Lenas Kopf ein großes Chaos herrscht, das sie bedroht. Es ist unendlich anstrengend für sie, mit den vielen Impulsen, Eindrücken, Anforderungen und Geräuschen umzugehen. Menschen mit einer Schizophrenieerkrankung können diese unterschiedlichen Eindrücke nicht voneinander trennen. Sie können gedanklich nicht das Wichtige vom Unwichtigen trennen, sie können Geräusche nicht von sich fernhalten – alles drängt in gleicher Weise auf sie ein. Die Situation in Lenas Zimmer ist ein Spiegelbild dessen, was in Lenas Kopf vor sich geht. Wenn sie es aufgrund ihrer Erkrankung schon nicht schafft, die Dinge in ihrem Kopf zu sortieren, wie soll sie es in ihrem Zimmer schaffen? Und wenn Sie dann verärgert oder genervt oder streng reagieren, dann wird den vielen Störgeräuschen und Störempfindungen in Lenas Kopf noch ein weiteres Störgeräusch hinzugefügt. Das tut Lena nicht gut, sondern belastet sie zusätzlich. Vielleicht schreit Lena Sie dann an – weil sie einfach diese zusätzliche Irritation von sich fernhalten will und sich nicht anders helfen kann. Sie kann in einer akuten Psychose nicht verstehen, was Sie meinen, wenn Sie etwas unordentlich finden. Sie weiß gar nicht, wovon Sie sprechen. Sie sehen das Chaos in Lenas Zimmer und empfinden das als unangenehm. Stellen Sie sich vor, wie es sein muss, wenn dieses Chaos im eigenen Kopf vorhanden ist und man ihm hilflos ausgeliefert ist. Sie kann im Kopf nicht aufräumen und die Dinge entwirren, sie an die richtige Stelle verweisen. Wie soll sie dann verstehen, was Sie meinen oder warum Sie ›böse‹ sind, dass ihr Zimmer unordentlich ist? Was sie dann braucht, ist Ruhe und Freundlichkeit oder noch besser Reizarmut. Vergessen Sie einfach die Unordnung, konzentrieren Sie sich auf Lena, auf Ihre Beziehung zu Lena. Aber wenn Sie aufräumen wollen, dann machen Sie Lena keine Vorwürfe, nicht einmal gedanklich – sie wird es spüren. Bieten Sie ihr einen Tee an, vielleicht ein warmes Bad, und in der Zwischenzeit nehmen Sie einen Pullover nach dem anderen, falten ihn und ordnen ihn in Lenas Schrank. Mit jedem kleinen Stück Ordnung, dass Sie in Lenas Außenwelt schaffen, wird auch das Chaos in Lenas Kopf etwas geringer. Das wird nicht immer funktionieren, aber je gelassener und ruhiger Sie auf alles reagieren, was Ihnen merkwürdig oder ›unordentlich‹ vorkommt, desto mehr können Sie Lena helfen.«
Ich erzähle anderen Angehörigen und Freunden von Frau Dr. E.s Erklärungen und Empfehlungen, stelle aber überrascht fest, dass nicht alle überzeugt sind. »Lena muss lernen, besser für sich zu sorgen. Man kann den Kranken nicht alles abnehmen«, höre ich. »Sie verwöhnen Lena, sie kann, wenn sie es muss. Ordnung ist auch viel besser für sie.« Und Ähnliches mehr. Manche belächeln die Hinweise als naiv. Ich weiß nicht, ob die Ärztin recht hat oder nicht, aber ich weiß, dass mir das Gespräch mit ihr bis heute zu mehr Verständnis für die Erkrankung verholfen und zusätzliche
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