Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Angehörige stillsteht, dass alles der Krankheit untergeordnet werden kann.
Heute ist mir klar, dass ich von den Pflichten und Arbeitsbelastungen dieser Ärztin ebenso wenig wusste wie sie von meinen, und ich bin froh, dass ich wöchentliche Gespräche mit ihr führen konnte.
Frau Dr. E., die Oberärztin in der Jugendpsychiatrie, gibt mir wichtige Informationen und Ratschläge und hilft mir damit sehr. »Sie machen sich sicher Vorwürfe, dass Sie mit Lena geschimpft haben, weil sie ihr Zimmer nicht aufgeräumt hat oder keine Lust auf Schulaufgaben hatte.«
Das stimmt. In der Nacht und auf Autofahrten denke ich über alles nach, was ich früher hätte beachten müssen und was ich hätte besser machen können, um die Krankheit zu vermeiden.
»Sie brauchen keine Schuldgefühle zu haben«, wiederholt die Ärztin den Satz, der mir im Moment der Diagnoseverkündung so absurd vorgekommen war. »Sie hätten nichts ändern können, niemand kann das. Vielleicht hätten sehr erfahrene Psychiater Frühwarnzeichen erkennen können, aber wie sollten Sie auf die Idee kommen, einen Psychiater hinzuzuziehen? Bitte denken Sie daran, dass psychisch Kranke starke Eltern brauchen. Wenn Sie sich mit Ihren Schuldgefühlen beschäftigen, können Sie Lena nicht bei ihrer Gesundung unterstützen.«
Diesen Satz habe ich nie vergessen, ich danke Frau Dr. E. heute noch dafür. Der Gedanke, dass die Beschäftigung mit meinen Schuldgefühlen, also mit mir selbst, Lena nichts nützt, hat mich befreit und stärker gemacht. Ich fühle mich nicht mehr hilflos einer furchtbaren und unerklärlichen Krankheit ausgeliefert, sondern kann etwas tun. Ich kann aufhören, mich zu bemitleiden oder mich schuldig zu fühlen, zu weinen und über dieses besondere Schicksal nachzudenken. Stattdessen beginne ich zu überlegen, wie ich Lena unterstützen kann. Frau Dr. E. ist es auch, die mir sagt, dass ich nicht täglich ins Krankenhaus kommen müsse, dies sei gar nicht immer gut für Lena. Sie müsse sich auch auf andere Dinge konzentrieren. Und mit den anderen Jugendlichen auszukommen sei ein Teil des Gesundungsprozesses. Sie würde nicht schlecht behandelt, aber jede kleine Aufregung des Tages erhielte bei psychisch Kranken aufgrund ihrer Ich-Schwäche eine viel größere und bedrohlichere Bedeutung, als es eigentlich angemessen sei. Und sie sehe mir an, dass ich vollkommen erschöpft bin. Das sei weder für mich noch für Lena gut. Ich sollte mich auch um mich kümmern, gerade weil ich für Lena stark bleiben müsse. Und sie zieht einen schönen Vergleich, der mir besonders im Gedächtnis geblieben ist: »Sie erinnern sich doch sicher, dass man im Flugzeug bei unerwartetem Druckabfall zuerst sich selbst helfen und die Sauerstoffmaske aufziehen soll. Erst dann soll man Älteren oder Kindern helfen. Wenn Sie als Erwachsener aufgrund von mangelnder Sauerstoffzufuhr ohnmächtig werden, können sie niemandem mehr helfen.«
Dies sind neue und entlastende Worte für mich. Frau Dr. E. rät mir dann auch davon ab, das Telefon Tag und Nacht anzulassen. »Lena ruft sie auch an, weil sie sich langweilt. Das ist nicht immer große Verzweiflung. Psychisch Kranke haben eine sehr niedrige Frustrationstoleranz. Sie müssen eine Frustration immer sofort loswerden – sie vertragen keinen Aufschub. Wenn Lena sich bei Ihnen über eine Mitpatientin oder einen Arzt beschwert, dann leiden Sie, aber Lena hat das nach zwanzig Minuten schon wieder vergessen. Lena muss Sie nicht nachts um drei Uhr anrufen. Wenn wirklich etwas Schlimmes passiert, dann würden wir Sie, notfalls auch nachts, anrufen.« Frau Dr. E. »erlaubt« mir, mich »normal« zu verhalten. Ich darf und soll Grenzen setzen, ich darf oder muss sogar auch an mich denken. Ich muss mein Leben nicht ausschließlich der Krankheit meiner Tochter widmen.
Entlastend ist auch die Abwesenheit jeglichen Vorwurfs. Die Ärztin wirft mir nicht vor, dass ich jeden Tag zu Besuch komme oder mein Handy anlasse. Sie versteht, dass meine Sorge um Lena der Grund dafür ist.
Anders ist das bei Freunden und Bekannten. Sofort erhalte ich den Rat, mich nicht so viel um Lena zu kümmern. »Lena ist bloß ein verzogenes Gör«, sagt mir eine Freundin, als ich ihr von der Diagnose erzähle. »Die ist gar nicht krank.« »Du hast sie immer viel zu sehr verwöhnt«, höre ich von einer anderen. »Eure Beziehung ist zu symbiotisch, das habe ich dir immer schon gesagt«, ist ein Satz, den ich ebenfalls oft höre. Oder: »Du kannst dich doch
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