Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Verhaltensmöglichkeiten gezeigt hat. Wann immer Lena aufgeregt reagiert, schreit, sich über Lärm am Nebentisch im Restaurant oder über meinen aggressiven Ton beschwert, versuche ich ruhig zu reagieren, gehe auf das Gefühl ein, zeige Verständnis, dass sie sich aufregt, dass es sie stört oder kränkt. Ich schlage ihr vor, das Restaurant zu verlassen, ich sage ihr, dass es mir leidtut, wenn sie meinen Ton als aggressiv empfindet. Ich bin überzeugt davon, dass es ihr hilft, wenn ich ihr Gefühl bestätige und nicht darauf beharre, dass der Lärm gar kein Lärm sei, dass ich gar nicht geschrien habe oder dass ihr Zimmer doch einfach ordentlicher sein müsse. Natürlich schaffe ich das nicht immer, aber wenn ich in der Lage bin, so mit Lenas Empfindungen umzugehen, tut es uns beiden gut.
Auch ein junger Assistenzarzt hat mir mit seinem behutsamen Umgang mit Lena geholfen. Als ich ihn eines Abends rufen lasse, weil meine Tochter schluchzend über unerträgliche Schmerzen im Gesicht klagt, lässt er sich von Lena schildern, was ihr weh tut. Am Bettrand sitzend, nimmt er ihre Hand und fragt, ob sie einen Pfefferminztee wolle. Er redet ruhig und geduldig mit ihr, fragt, wo genau der Schmerz sei und ob sie eine Schmerztablette oder es erst mit dem Tee versuchen wolle. Und ob vielleicht doch das Fenster ein bisschen geöffnet werden könne, frische Luft würde oft helfen. Auf Lenas heftiges Weinen, dass, nein, auf keinen Fall das Fenster geöffnet werden dürfe und auf jeden Fall die Jalousien unten bleiben müssten – das helle Licht tue auch weh –, reagiert er freundlich. Ja, die Jalousien blieben unten, ob er jetzt den Tee holen solle. Und ob sie ihn lieber mit Zucker oder ohne trinken würde. Ich bin fassungslos. Meine Tochter weint vor Schmerzen, und der Arzt erzählt etwas von frischer Luft und Pfefferminztee. Ist er inkompetent? Nimmt er Lena nicht ernst? Aber während ich noch entsetzt bin, merke ich, dass Lenas Schluchzen allmählich aufhört, dass sie über den Zucker im Tee nachdenkt – lieber Süßstoff – und dass sie merklich müder wird. Sie hat sich beruhigt und die Schmerzen scheinen nachgelassen zu haben. Später unterhalte ich mich mit dem Arzt, und er erklärt mir, dass Lena im Gesicht vermutlich keine Schmerzen habe, die auf eine körperliche Ursache zurückzuführen seien.
Aber warum sie dann so weine und es ihr doch erkennbar schlechtgehe? Er erklärt, dass Lena subjektiv tatsächlich Schmerzen empfinde, dass sie vielleicht ein anderes Gefühl als Schmerz bezeichne, weil ihr kein besserer Begriff zur Verfügung stehe. Das Schlechteste sei nun, ihr zu erklären, dass sie keine Schmerzen haben könne. Das würde zu ihrer Verwirrung beitragen und das Schmerzempfinden noch verstärken. Er habe einfach versucht, ihr Gefühl ernst zu nehmen, ihre Hand zu streicheln, ein paar Linderungsvorschläge zu machen, sie gedanklich von den Schmerzen wegzubringen, indem sie sich mit der Frage von Tee oder geöffnetem Fenster beschäftigen musste. Sie solle merken, dass jemand versucht, ihr Linderung zu verschaffen. Sehr viel mehr könne man nicht machen. Sicher könne er ihr sofort ein starkes Medikament zur Beruhigung geben, aber er würde es zunächst immer mit freundlichen Worten, einer sanften Berührung oder eben mit einem Tee versuchen. Und indem er ihr Vorschläge mache, mit denen sie sich gedanklich beschäftigen müsse, würde er ihre Konzentration von dem schmerzenden Gesicht auf etwas anderes lenken. Das würde häufig helfen. Ich habe beobachten können, dass es Lena half. Nachdem sie den Tee getrunken hatte, schlief sie ruhig ein.
»Gehen Sie bitte!«
Als ich Lena eines Tages besuchen will, sitzt sie ruhig im Aufenthaltsraum und unterhält sich. Ich gehe auf sie zu und will sie, wie immer, mit einer Umarmung begrüßen, da reicht sie mir höflich die Hand und betrachtet mich mit einem distanzierten und kühlen Blick. »Wen wollen Sie besuchen?«, fragt sie streng. »Die meisten sind hier gerade in der Schule.« Ich erstarre. »Lena, ich bin es doch, Mami, ich hatte doch gesagt, dass ich heute komme.« Ich versuche ihre Hand zu nehmen, was sie aber bestimmt abwehrt. »Sie können ja einen Moment bleiben und sich hierhin setzen«, sagt sie ruhig und weist auf einen Sessel, weit von sich entfernt. »Ich warte auch auf meine Mutter, die wollte mich heute besuchen.« Ich setze mich. Der durchdringende Blick, mit dem Lena mich mustert und auf Distanz hält, lässt ein Grauen in mir hochsteigen. Es
Weitere Kostenlose Bücher