Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
intensiv sein, weder die positiven noch die negativen. Gleichbleibend zugewandt und verständnisvoll sollen wir sein. Nein, würden jetzt wieder andere Fachleute sagen, so ist das auch nicht gemeint. Seien Sie klar mit Lena, sagen Sie ruhig und sachlich, was Sie stört und was Sie sich stattdessen wünschen. Leicht gesagt. Ich glaube, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen beobachtetem Leiden und teilnehmendem Leiden. Natürlich beobachten die Ärzte das Leiden der Kranken, und oft verstehen sie es auch. Aber mir gelingt es bis heute nicht immer, nicht mitzuleiden, wenn ich sehe, dass es Lena schlechtgeht. Dieser Mangel an Distanz ist für uns beide nicht gut. Ich wäre die Erste, die sich für einen Kurs anmeldet, in dem mir beigebracht würde, wie ich mich auf gesunde Weise distanzieren könnte. Aber außer der ungeduldigen Forderung, mich doch endlich von Lena zu lösen, habe ich bislang noch keinen Rat von einem Fachmann gehört. Es gelingt mir zwar inzwischen besser, Lena gegenüber klarer aufzutreten, aber immer noch habe ich oft die Tendenz, sie wie ein rohes Ei zu behandeln. Ich weiß, dass ich das nicht sollte. Lena braucht Klarheit, auch über meine Gefühlsregungen.
»Schizophrene kann man nicht belügen«, hat meine Therapeutin gesagt. Sie hat recht. Es ist verwirrend für Lena, wenn ich mich bemühe, meine Stimmung zu überspielen oder einfach zu schweigen. Das ist auch in der Kommunikation mit gesunden Menschen keine erfolgversprechende Methode. Aber für Menschen, die darum ringen, Klarheit in ihre innere Verwirrung zu bringen, ist es besonders abträglich. »Ich hasse es, wenn du einfach nichts mehr sagst, Mami. Sag mir doch, wenn dich etwas stört. Auch wenn ich dich anbrülle. Damit musst du dann eben auch leben.«
Lena hat recht. Aber ich kann nicht immer so sein, wie ich sein sollte. Je älter ich werde, desto weniger kann auch ich ständige Aufregung ertragen. Lenas krankheitsbedingte emotionale Unberechenbarkeit und ihre Gefühlsschwankungen waren lange Jahre kaum auszuhalten und haben mir viel Kraft geraubt. Für mich ist es extrem schwer, die Anforderungen an ein »richtiges« Verhalten gegenüber psychisch Kranken mit meinem Bedürfnis nach Harmonie, Freundlichkeit und Ruhe zusammenzubringen.
Manchmal nimmt die Mischung aus unkorrigierbaren Überzeugungen und Gefühlsschwankungen aber auch komische Züge an. Ein Beispiel aus dem Alltag: Ich lese friedlich auf meiner Terrasse. Die Stunden, die ich dort in der Sonne liegend mit einem Buch verbringe, sind für mich die schönen Momente im Leben. Aber mein heutiges Glück hat wohl schon zu lange angehalten, denn es klingelt. Es klingelt einmal, zweimal, dreimal … es hört nicht auf. Ich weiß, wer das ist. Nur Lena klingelt so. Ihre Aufgebrachtheit kann sie selbst beim Klingeln zum Ausdruck bringen. Seufzend lege ich mein Buch zur Seite und rufe mich emotional zur Ordnung. »Hallo, Schätzchen, wie geht’s?«
»Ich bringe dir den Rechner, den wolltest du doch unbedingt. Und weil ich ja kein Geld mehr auf meiner Karte hatte, konnte ich dich nicht anrufen.« Ein vorwurfsvoller Blick in meine Richtung. »Es ist ja nicht leicht, wenn man nicht genug Geld hat, um sich Karten zu kaufen und zu telefonieren.« Sie knallt den Rechner unsanft auf meinen Tisch. Und nun fordernd und mit strengem Ton: »Hast du was zu essen für mich? Ich habe nichts mehr. Kann ich etwas mitnehmen?« Der Ton wird lauter. Ich seufze innerlich. Ich soll doch konsequent bleiben, sie muss lernen, mit ihrem Geld umzugehen. »Nein, ich habe nichts, was du mitnehmen könntest«, sage ich tapfer. Lena wird noch lauter. »Sei froh, dass du dir immer etwas kaufen kannst, Janine, wenn du Hunger hast. Es ist nämlich nicht leicht, ohne Geld genug zu essen zu haben. Und ich habe jetzt nachts immer so Fressattacken, da esse ich immer sofort alles auf, was ich montags kaufe.« Wenn sie mich Janine nennt, ist das immer ein schlechtes Zeichen. »Du hast doch 100 € die Woche für Essen, das muss doch reichen, Lena. Darüber haben wir doch schon oft gesprochen. Möchtest du einen Espresso und willst du eine Zigarette auf der Terrasse rauchen?« Seit einer Lungenentzündung kann ich Rauch in der Wohnung nicht mehr ertragen. »Also vergiss es, behalt dein Zeug, es ist ja egal, ob ich Hunger habe.« Lenas Stimme ist inzwischen im ganzen Haus zu hören. »Hauptsache, du hast genug zu essen. Nein, ich will keinen Espresso, ich will auch nicht auf den Balkon. Behalt dein Zeug
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