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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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an den Schreien, dem Schmerz und dem Blut auf.
    Chelsea versuchte, sich aufzurichten, und kam irgendwie auf die Füße. Die Grasfläche schwankte bedrohlich unter ihr, und ihr Blick flackerte zwischen den Männern hin und her wie bei einem verrückten Spiel. Sie konnte ihre eigene Angst förmlich schmecken.
    Als sie einen Schritt zurücktrat, verschwand der Mond hinter einer Wolke und die Schatten der Nacht legten sich über den Friedhof.
    Jetzt oder nie.
    Chelsea machte auf dem Absatz kehrt und stürzte blindlings in die Richtung, aus der sie ihrer Meinung nach gekommen war. Sie machte einen Abstecher in die pechschwarze Dunkelheit zwischen den Bäumen.
    Einer der Männer schlug sich in die Büsche zu ihrer Rechten und riss an ihren Haaren. Sie warf sich nach links, aber nicht schnell genug. Ein starker Arm schlang sich um ihre Taille. Sie wollte schreien, aber ihr Schrei wurde von einer großen behandschuhten Hand erstickt, die Nase und Mund zuhielt.
    Marlon flüsterte ihr ins Ohr: »Hey, Chelsea, wo willst du denn hin? Die Party fängt doch erst an! Du willst uns doch wohl nicht beleidigen und die Einladung ablehnen?«
    In diesem Augenblick wusste Chelsea Ford, dass sie sterben würde, egal was sie unternahm.
    Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie darum bitten und betteln würde und dass fast zwei Monate in unbeschreiblicher Angst vergehen würden, bis es endlich so weit war.

1
     
    Savannah, Georgia, heute
     
    Das letzte Licht des Tages begann der Dämmerung zu weichen, als sie den Geländewagen auf dem Parkplatz vor dem Bonaventure-Friedhof abstellte. Der alte Friedhof lag etwa dreißig Kilometer vom Zentrum Savannahs entfernt, still und geheimnisvoll, unter einem ewigen Schleier von spanischem Moos, eingefasst von einem hohen Zaun mit schmiedeeisernen Rosen.
    Máire Ann Mercer stieg aus dem Auto, verscheuchte ein paar taumelnde Insekten mit der Hand und vertrat sich nach der fast fünfstündigen Fahrt von Charlotte in North Carolina die Beine.
    Ihr fiel die Stille auf, die sich auf einmal über die Welt gelegt hatte und einem Vakuum glich. Es gab keine anderen parkenden Wagen, keine Besucher, keine Trauernden, keine Bestattung. Sie würde den Friedhof für sich haben in dieser düsteren Abendstunde.
    Es war den ganzen Tag lang sengend heiß gewesen. Die schlimmste Hitzewelle seit 1986 ließ die Tage wie in einem Hitzeofen unter gnadenloser Sonne vergehen, windstill und feucht, mit Tagestemperaturen von bis zu vierzig Grad Celsius. Die Luft war schwer wie Dunst, es wehte nun ein schwacher Wind, und ein ganz feiner Nieselregen hatte eingesetzt. Am Himmel war ostwärts noch immer ein schmaler Goldstreifen zu sehen, aber im Westen waren schwarzviolette Wolken hinter den langen, melancholischen Schatten der Eichen aufgezogen.
    Máire trug einen schwarzen Rock, flache Sandalen und eine schwarze, ärmellose Bluse, die sie vor dem Bauch geknotet hatte. Der einzige Schmuck, den sie trug, bestand aus einem dünnen Ehering am linken Ringfinger und dem Goldmedaillon ihrer Großmutter um den Hals. Sie löste den Knoten und versuchte, den krausen Stoff mit den Händen glatt zu streichen. Trotz der Wärme war ein entblößter Bauch auf einem Friedhof unangemessen.
    Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie musste sich beeilen. In einer knappen Dreiviertelstunde wurde der Friedhof geschlossen.
    Sie warf sich einen dünnen, gestrickten Schal um die Schultern, griff nach ihrer Schultertasche und dem Strauß Wildblumen auf dem Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Der kleine Strauß war etwas verwelkt, aber das spielte keine Rolle. Der Tote würde sich nicht beklagen, und alles außer einer New-Orleans-Blasmusikkapelle, einem Gospelchor und einer Parade wäre ohnehin Untertreibung.
    Ihr Mobiltelefon piepte störend in der Tasche. Máire holte es heraus und klappte es auf. Ein blinkendes Symbol wies darauf hin, dass der Akku leer war. Schon wieder. Sie hatte es eigentlich gerade erst an ihrem Zigarettenanzünder aufgeladen. Sie drückte eine Taste und legte das kleine Gerät seufzend in die Tasche zurück. Sie musste den Akku bei Gelegenheit austauschen.
    Máire wandte den Blick Richtung Eingang. Zwei imposante Granitsäulen flankierten das schmiedeeiserne Tor, als würden sie über die Knochen der Toten wachen. Sie nahm die Schultern zurück, holte tief Luft und der klebrig-süße Duft der Blumen und der Geruch der nassen Erde auf dem Friedhof stiegen ihr in die Nase. Mit schmerzhafter Wehmut erkannte sie den

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