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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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Geruch wieder, und sofort begann es, hinter ihren Lidern zu brennen.
    Tausend Tage waren seitdem vergangen, ebenso viele Nächte und eine schrecklich große Menge an Minuten und Sekunden der Sehnsucht und Leere. Reichlich Zeit, damit die Wunden heilten, könnte man denken. Aber es gab trotzdem Tage wie diesen – Jesses Todestag –, an denen sie spürte, dass die Wunden noch immer nicht geheilt waren, und sie fühlte sich genauso verloren und einsam wie damals, als er seine Augen für immer schloss.
    Einsamkeit war für Máire nichts Neues. Als sie neun war, verlor sie ihre Eltern, die ihr nichts als einen keltischen Namen mitgegeben hatten, den niemand aussprechen konnte, wenn sie ihn buchstabierte. Die ganzen zwanzig Jahre lang hatte sie sich allein gefühlt, bis sie Jesse kennenlernte. Er gab ihr das Gefühl, einen Platz zu haben. Er schlang schützend seine Arme um sie, wirbelte sie im Kreis durch die Luft, bis sie sich ganz schwach fühlte vor Glück …
    Und dann hatte das Schicksal das seine gefordert.
    Sie hatte eingesehen, dass sie ihn loslassen musste: Sie musste ihn vergessen … oder sterben.
    Sie hatte sich langsam aus ihrer Handlungsunfähigkeit herausgearbeitet, sein Haus verkauft (das sie schon längst hätte verkaufen sollen) und sein Auto, und hatte beschlossen, ihren Ehering an seiner letzten Ruhestätte zurückzulassen. Heute – drei Jahre nach seinem Tod.
    Máire trat durch die Pforte und folgte dem Kiesweg ein kleines Stück. Er war schattig und so breit wie eine Allee – damit auch Autos und Pferdekutschen in den Friedhof hineinfahren konnten.
    Es war ein sehr schöner Ort, auch wenn der Verfall deutlich spürbar war. Sie ließ ihren Blick über uralte, grüne Eichenbäume schweifen, die beide Seiten des Weges säumten, hoch aufragten und ein so verzweigtes Geäst hatten, dass es hoch über ihrem Kopf ein grünes Himmelsgewölbe bildete – fast wie die Antwort der Natur auf eine gotische Kathedrale. Lange Büschel von spanischem Moos hingen wie Schleier von den Ästen. Sie bewegten sich wie Gespenster im ewig heißen Wind.
    Máire ging an Sektion M vorbei, dem ältesten Teil des Friedhofs mit den grauen, gespenstischen Mauern, die von weißen Kletterrosen umrankt wurden. Dieses Gewölbe, das einer Klöppelarbeit glich, hätte genauso gut das Tor zum Ende der Welt sein können. Máire steckte den Kopf durch den Torbogen und sah hinein. Üppige Engelsstatuen mit blinden weißen Augen reckten ihre schlanken Arme hier und dort zwischen Blumen und Schlingpflanzen hervor. Diese düsteren Statuen hatten etwas Faszinierendes und gleichzeitig Abstoßendes, da sie mit der Zeit schwarz geworden waren und ihre Gesichter wie schmerzverzerrt wirkten. Sie sahen überraschend lebendig aus! Máire verspürte jedes Mal den verrückten Wunsch, die Arme auszustrecken, um sie zu berühren. Ihr schauderte unwillkürlich, und sie kehrte zu Sektion A zurück.
    Ein Unwetter zog in der Ferne auf und kam rasch näher. Erste große Regentropfen fielen. Máire beschleunigte ihren Schritt und bog nach links in ein Labyrinth aus schmalen Pfaden ein, die zum Fluss hinunterführten. Sie kam an Grabreihen vorbei, an Mausoleen mit rostigen Ketten und schiefen schmiedeeisernen Pforten. Hunderte Kinder, Frauen und Männer, die keine Menschen aus Fleisch und Blut mit Bewusstsein mehr waren, waren zu kalten Knochen in modernden Särgen zerfallen.
    Zwischen den verwitterten Grabsteinen, Gedenktafeln und Kruzifixen ragten vereinzelte Monumente in die mächtigen Kronen der Eichen.
    Máire fand es beinahe komisch, dass sich einige selbst nach ihrem Tod noch so profilierten, während sich andere einer nahezu selbstauslöschenden Bescheidenheit befleißigten. Aber der Bonaventure-Friedhof war in seiner ganzen üppigen Südstaatenpracht im Grunde nichts für jene, die in aller Stille vergessen, verbrannt und zur ewigen Ruhe gebettet sein wollten.
    Máire hielt bisweilen inne und betrachtete Bilder von Heiligen mit Glorienscheinen und Engeln mit Flügeln, die auf Wolken saßen, oder schlichte gerahmte Porträts auf den Grabsteinen. Sie las die Inschriften – zwei Daten und ein Name (die eines Tages auch von ihr bleiben würden) – mit fast morbider Faszination. Einige waren so alt und schwarz geworden, dass sie sich nur mit Mühe entziffern ließen.
    Als sie zwanzig Minuten später am Ende des Pfades anlangte, blieb sie kurz vor dem großen, eindrucksvollen Grabmonument von General Lawton stehen, das Jesus an der Himmelspforte zeigte,

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