Schlaf, Kindlein, schlaf
der Krebs blitzschnell in beide Lungen und in den Brustkorb. Am siebten August, während er zitternd und wimmernd darum bat, sterben zu dürfen, gab sein spindeldürrer, vom Krebs gebeutelter Körper den ungleichen Kampf auf.
Er wurde dreiundvierzig.
Und Máire trat in den Schattenkreis des Witwenstandes, vier Tage vor ihrem dreißigsten Geburtstag.
Auch in schlechten Zeiten hatte Máire stets ihren Optimismus bewahrt, aber in den Wochen nach Jesses Tod hatte sie sich wie jemand benommen, der sterben wollte. Wenn sie wach war, dachte sie ununterbrochen an ihn und daran, wie er gelitten hatte. Sie sah sein Gesicht im Krankenbett vor sich, die schmerzerfüllten, dunkelblauen Augen, die schier durch sie hindurchblickten, und sie hörte seine gespenstische Stimme in ihrem Kopf widerhallen: Du sollst nicht um mich trauern. Versprich mir das! Du sollst glücklich sein, Máire. Und nachts träumte sie davon, wie er in dem mit grauem Samt ausgekleideten Sarg verbrannte. Das war unerträglich.
Mehrmals während der Stunde, in der Jesse mit dem Tod rang, und selbst auf der Schwelle ins Jenseits, kurz bevor das Licht in seinen Augen erlosch, er ihre Hand losließ und für immer außerhalb ihrer Reichweite war, hatte sie ihm versprechen müssen, dass sie ihn nicht unter der Erde verrotten lassen würde. Dieses Versprechen hatte sie gehalten. Sie hatte alles genauso gemacht, wie er es sich gewünscht hatte. Trotzdem musste sie daran denken, wie die Flammen ihn völlig vernichtet hatten … und daran, ob seine toten Glieder trotz allem etwas davon gespürt hatten.
Zu jener Zeit lebte sie zwar in dieser Welt, wollte jedoch lieber zusammen mit Jesse auf die andere Seite gelangen und Hand in Hand mit ihm in die Ewigkeit spazieren. Und die Todespforte stand offen: Sie stand weit offen. Der Schmerz über seinen Verlust war einfach zu groß, um ihn zu ertragen. Die Leere tat so weh, dass sie liebend gern ihr Leben dafür gegeben hätte, nur um darauf verzichten zu können, und sie tat sich selbst unermesslich leid. Sie begann zu trinken und Tabletten zu schlucken – oft beides gleichzeitig –, denn sie hatte ja keinen Grund mehr zu leben. Jedenfalls keinen Grund, der ihr zu dem Zeitpunkt eingefallen wäre.
Elf Tage nach Jesses Tod verlor Máire ihr Kind, ohne sich überhaupt darüber im Klaren gewesen zu sein, dass eine Schwangerschaft bestand. Und als sie eingeliefert wurde, wahnsinnig vor Schmerz und Trauer, hatte sie eine Woche lang nichts zu sich genommen – außer ihrem Cocktail aus Antibiotika, Alkohol und Antidepressiva – und war kurz davor, vollkommen zusammenzubrechen. Gefangen im Schmerz und dem schwarzen Abgrund, in den kein einziger Lichtstrahl fiel, saß sie in ihrer Zelle. Ihr Egoismus und das armselige Streben nach Selbstauslöschung hatten dazu geführt, dass sie ihr Baby verloren hatte: Jesses Erbe und Nachkomme.
Und danach kam sie jede Nacht an den Punkt, an dem die Vergangenheit in ihren Träumen zum Leben erwachte.
Nun, drei Jahre später, hatte sie einen Strich unter ihren Schmerz und ihre Trauer gezogen. Stabilität und Regelmäßigkeit bestimmten ihr Dasein, und ein Fünkchen Lebenswille war auch zurückgekehrt. Doch es gab noch immer vieles, was es zu überwinden galt. Zaghafte Träume nahmen mit der Zeit Form an, aber schon bei einem einzigen Wort schlug ihre Stimmung um. Sie nahm abends immer noch Tabletten, damit sie einschlafen konnte, und dennoch hatte sie seit Jahren nicht gut geschlafen.
Sie musste sich auch regelmäßig daran erinnern, dass ihre Zeit mit Jesse abgeschlossen war. Jetzt waren es nur die Gespenster, die mit ihren Ketten rasselten. Aber welche Frau würde nicht auf dem Höhepunkt des Glücks verweilen, wenn sie könnte – auch wenn das Wiedersehen mit dem Glück nur aus Erinnerungen bestand?
Máire ging in die Hocke und betrachtete das silbrig-grüne Wasser des Flusses, das gegen das Ufer schwappte, und einen Augenblick lang dachte sie, Jesses vom Tod gezeichnetes Gesicht zu sehen.
Dann verschwand das Gesicht wieder.
Máire weinte, ohne es zu merken, und zog den dünnen, mit Brillanten besetzten Ring aus Weißgold, das Symbol ihrer Liebe, vom Finger. Sie musterte ihre Hände. Lange, schlanke Pianistinnenfinger. Sie hatten ähnliche Hände gehabt, das wusste sie noch, auch wenn seine viel größer als ihre gewesen waren. Sie umklammerte den Ring, dann öffnete sie ihre Faust und ließ ihren Blick auf dem kleinen, feinen Goldschmuck ruhen.
Der Regen strömte an ihren Wangen
Weitere Kostenlose Bücher