Schlaf, Kindlein, schlaf
dann überquerte sie die Rasenfläche mit Espenlaub, die bis zum Wilmington River reichte. Am Ufer hielt sie inne.
Laubfrösche quakten im Chor. In ihrer Tasche piepte ihr Handy wieder, aber sie hörte es kaum. Schwarze Wolken zogen am Himmel über sie hinweg wie zerrissene Spinnweben, und die Dämmerung verdunkelte sich eine Sekunde lang.
Die Regentropfen, die nun dichter fielen, brachten Bewegung in die glatte Wasseroberfläche des Flusses, die sich in Tausende winzige zitternde und funkelnde Ringe verwandelte. Der kleine Blauregen und die Bougainvillea schlossen ihre Blüten und neigten anmutig ihre Köpfe. Máire bekam einen Kloß im Hals. Hier war es, genau an diesem Ort, wo sie Jesses Asche über dem Wasser ausgestreut hatte. Das war sein Wunsch gewesen. Sein Ort! Er hatte den Bonaventure geliebt und war als Kind zusammen mit seinem jüngeren Bruder immer gern hierhergekommen. »Wir haben dort auf der Anhöhe gesessen mit Blick auf das schwarze Wasser des Flusses und uns gegenseitig Spukgeschichten vorgelesen, während die Schatten der Äste hinter uns immer länger wurden und wir uns immer mehr fürchteten, bis wir uns vor Angst fast in die Hose gemacht hätten, und der Bonaventure wieder von den Tausenden sehnsuchtsvollen Seelen heimgesucht wurde, deren Knochen und Asche unter den wispernden Blättern ruhen … ich schwöre, Máire, ein paar Mal konnten wir sogar den schlurfenden Schritt der Toten hören. Oft blieben wir bis zum Morgengrauen. Denn wenn der Morgen über dem Bonaventure dämmert, kann man die Asche der Toten in der Luft über dem Fluss flimmern sehen.«
Bruchstücke ihrer Erinnerungen tauchten vor Máires innerem Auge auf. Ein sengend heißer Nachmittag. Schwarze, funkelnde Autos. Ein Flugzeug, das seinen Kondensstreifen am Himmel hinter sich herzog. Ein Blumenmeer, das den Boden bedeckte. Weiße Rosen und Lilien: der Geruch nach Tod und Beerdigung. Das leichenblasse Gesicht ihrer Schwiegermutter, tränenüberströmt, den Blick in weite Ferne gerichtet. Gesenkte Köpfe. Schwarz und grau gekleidete Menschen, Tanten und Großtanten, die sie bis dato (oder seitdem) nicht gesehen hatte, Fremde, die stehen blieben, um ihr ein paar Worte zu sagen und ihr die Hände zu drücken. Sie selbst: stumm, am Boden zerstört und vollkommen leer.
Auch wenn sie sich an den Großteil der Beisetzungszeremonie nicht mehr so genau erinnerte, hatte sich der schwere und bedrückende Augenblick, als sie die Urne leerte, für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie würde nie vergessen, wie der graue Staub durch die Luft geschwebt war und sich nicht – wie es schien – auf der Wasseroberfläche hatte niederlassen wollen. Als hätte er die Naturgesetze außer Kraft gesetzt, um auf der Schwelle in die Ewigkeit zu verweilen. Dann schien der Staub an ihr zu kleben, an ihren klammen Kleidern und auf ihrem warmen Gesicht.
Lange, nachdem die Trauernden gegangen waren, konnte sie die Asche über dem Fluss in der Luft flimmern sehen und den Geruch in der Dämmerung einatmen … »Wenn der Morgen über dem Bonaventure dämmert, kann man die Asche der Toten in der Luft über dem Fluss flimmern sehen.«
Die Vergangenheit wich der Gegenwart, und Máires Augen füllten sich mit Tränen. Eine kühle Brise wehte um ihre Nase und zog an ihrer Bluse, sodass sich der feuchte Stoff mit einem schmatzenden Geräusch von ihrer Haut löste.
Sie senkte den Kopf und sprach ein Gebet für Jesses Seele … auch für ihre eigene Seele sprach sie ein Gebet, selbst wenn Gott vor langer Zeit schon in ihrem Herzen verblasst war – aber ein Gebet konnte schließlich nicht schaden … Sie brauchte Vergebung. Sie brauchte Seelenfrieden. Und dieser Friedhof mit seinem ganz eigenen, stillen, in sich gekehrten und malerischen Verfall hatte etwas an sich, das den Tod auf beinahe magische Weise romantisierte und den Glauben an Gott stärkte, obwohl Jesses Todeskampf überhaupt nichts mit Romantik zu tun gehabt hatte.
Und Gott war auch nicht da gewesen.
Jesse Mercer hatte sich in der Weihnachtszeit schlecht gefühlt. Am vierzehnten Juni wurde in seinem linken Oberschenkelknochen ein maligner Knochentumor in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert – eine seltene und aggressive Tumorart. Am ersten Juli wurde ihm das Bein unterhalb der Hüfte amputiert, darauf folgte eine Chemotherapie, die ihn so krank machte, dass man von Tierquälerei gesprochen und ihn aus reiner Barmherzigkeit eingeschläfert hätte, wäre er ein Hund gewesen. Danach streute
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