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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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hysterisches Lachen.
    Komm mit, sagte Jesses Geist.
    Máire ließ den Blick hinter den geschlossenen Lidern schweifen. Sie war nicht länger im Sarg, sondern an einem anderen, magischen Ort: eine verzauberte, alte Stadt mit versteckten Wegen, deren Brücken schmale Kanäle überspannten, gebogenen Brücken, spitzen Türmen und imposanten Kuppeln.
    Venedig!
    Sie drehte sich um sich selbst und blickte zum Himmel. Sterne funkelten an einem überwältigenden, dunkelvioletten Himmel, der sie an die Deckengewölbe einer Kathedrale erinnerte. Eine große Rasenfläche glitzerte silbern unter ihren Füßen, und in der Ferne sah sie einen Kanal mit Gondeln in leuchtenden Farben und maskierte Damen, die auf einer breiten weißen Treppe standen. Sie konnte sie flüstern hören und ihre Halbmasken schimmern sehen, ihre vollen, dunkelrot geschminkten Lippen glänzten. Die Frauen schienen sie zu mustern.
    WILLKOMMEN IN DER IRRENANSTALT!
    Die Welt schwoll an und zog sich wieder zusammen, wie nasse Zuckerwatte – doch das passierte natürlich nicht in der Realität. Vielmehr war es ein weiterer Schritt auf dem Weg in den Wahnsinn. Sie konnte nicht auf die andere Seite, in den Tod, wechseln, aber vielleicht gelang es ihr, einen anderen Weg zu finden, der ihre Welten voneinander trennte und der in den Wahnsinn führte.
    Verrückt sein war gut, der Wahnsinn war eine Gnade. Hatte man diesen Weg eingeschlagen, gab es keine Rückkehr mehr …
    Das Gespenst der Liebe setzte das ihr so vertraute, freundliche Lächeln auf und versetzte sie mühelos in einen Schwebezustand. Hinter ihm sah sie die Zwillingstürme auf dem Markusplatz und die rot-weißen Pfosten zum Vertäuen der Boote im Wasser. Die Traumsequenz war voll von unglaublich vielen Details: smaragdgrüne venezianische Laternen, die sich leicht im Wind bewegten, die Sterne leuchteten klarer und heller denn je, das Geräusch schlagender Wellen, gurrender Tauben …
    Aber plötzlich fielen die Sterne herab, der Himmel schrumpfte zusammen, Häuser stürzten ein, Lichter erloschen, und die Dunkelheit wurde finsterer und schwärzer.
    Sie sah ihm in die Augen. Sie strahlten wie violette Glassteine. Einen Moment lang konnte sie die Knochen ausmachen, die sich hinter seiner Gesichtshaut verbargen. Im nächsten Augenblick waren sie wieder weg.
    »Ich habe Angst«, flüsterte sie. »Ich glaube, ich sterbe.«
    Nein, Máire, du stirbst nicht. Nicht heute. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du musst hier raus. Du musst zusehen, dass du von hier wegkommst.
    Sie wollte die Arme heben, um ihn aufzuhalten, aber sie konnte nicht. »Bleib bei mir!«
    Doch sie konnte das Bild von Jesses Gesicht nicht festhalten, konnte die Barriere zwischen dieser und der nächsten Welt nicht durchdringen. Von irgendwoher entstand ein Druck, und sie musste in die Wirklichkeit zurückkehren.
    Nein!
    Verlass mich nicht!
    Seine letzten bittenden Worte hallten in der Sargfinsternis wider: Verstehst du nicht? Du warst die wunderbare, vollkommene Geschichte meines Lebens, Máire. Und ich war nur …
    Nein, sag das nicht, ich bitte dich. Sie schüttelte den Kopf.
    Die Liebe wird dich wiederfinden.
    Sie schlug die Augen auf. Hatte sie geträumt? »Du hast den Verstand verloren«, sagte sie zu sich selbst. Sie schnappte nach Luft. Einen Augenblick lang schwebte das Bild von Jesses Gesicht am Rand ihres Blickfelds, dann verschwand es in der Stille wie eine Seifenblase, die platzt.
    Puff!
    Weg.
    Dann fiel ihr Blick auf den Sargdeckel.
    Und nur die Stille blieb.
    Nirgends ein Laut. Nur wispernde, rasselnde Atemzüge. Ihre eigenen!
    Hier ruht Máire Ann Mercer, geborene Lanaghan …
    Oh Gott!
    Ihre Wirklichkeitsflucht war beendet, noch bevor sie angefangen hatte. Ohne Zweifel. Sie hob den Kopf ein paar Zentimeter und stieß mit der Stirn gegen den Sargdeckel. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Oh, das war nah. Nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase.
    »Passiert das hier wirklich?«, fragte sie den Sargdeckel.
    Sie befürchtete schon, er würde ihr tatsächlich antworten.
    Sie fühlte sich benommen, als hätte sie Watte im Kopf. Außerdem hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.
    Wie lange lag sie jetzt schon hier?
    Eine Minute? Eine Stunde? Sie hatte keine Ahnung.
    Sie war verspannt und verschwitzt, obwohl sie fror und ihre Beine kribbelten. Sie versuchte, sich zu bewegen. Sie hatte nur wenig Platz: Der Sarg und die Eisenmanschetten hemmten ihre Bewegungen in alle Richtungen. Sie versuchte Ruhe zu bewahren, kämpfte

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