Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
Vom Netzwerk:
ihre Daumen sogar opfern würde, hatte sie nichts, womit sie sie abschneiden konnte. Vielleicht konnte sie die Gelenke brechen? Das nützte auch nichts: Um das eine zu brechen, benötigte sie die andere Hand und umgekehrt … außerdem …
    Sie hob den Kopf, soweit der Sarg dies zuließ, und betrachtete die Manschetten an ihren Handgelenken. Sie sahen wie Handschellen aus – jedoch nicht wie die Modelle der Polizei mit Schlüssel, sondern die, die man in Sexshops kaufen konnte und die für Bondage geeignet waren.
    Beide Manschetten waren mit Leder gefüttert und jeweils einem Zahlenschloss ausgestattet, das aus drei Rädchen bestand und fast so aussah wie die Schlösser an ihrem Samsonite-Koffer. Es gab also tausend mögliche Kombinationen. Sie winkelte das Handgelenk ab und versuchte es trotz allem. Mit dem Zeigefinger konnte sie die Rädchen ganz knapp berühren, wenn sie das Handgelenk so weit nach innen drehte, wie es nur ging. Es war schwer, aber sie drehte an den Rädchen, bis alle drei die Neun zeigten. Dann probierte sie neun, neun, acht, danach neun, neun, sieben. Und dann neun, neun, sechs. Sie versuchte es auch mit neun, neun, fünf und neun, neun, vier. Dann fuhr sie eine unendliche Ewigkeit damit fort, so kam es ihr jedenfalls vor. Sogar die Kombination von ihrem Koffer stellte sie ein: sieben, eins, drei. Sie drehte die Rädchen wie eine Gejagte, stellte eine ganze Reihe unterschiedliche Kombinationen ein und verzog vor Anstrengung und Schmerz das Gesicht.
    Es war nicht machbar.
    Sie begann wieder, in der drückend feuchten Kälte zu schwitzen. Der Schweiß legte sich wie ein kühler, klammer Film auf ihre Haut, und sie schlotterte. Acht, neun, sieben … acht, neun, sechs … acht, neun, fünf. Es würde Tage dauern, vielleicht Wochen, um die richtige Kombination zu finden. Sie wischte den kalten Schweiß ihrer Fingerspitzen an den Shorts ab. Ihr standen weder Wochen noch Tage zur Verfügung, vielmehr ging es um Stunden. Wie sollte sie vorgehen? Sie holte tief Luft und atmete durch die Nase wieder aus. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie noch nie so verzweifelt gewesen. So vollkommen hilflos. Sie unternahm noch einen Versuch: acht, neun, vier … acht, neun, drei … acht, neun, zwei. Frustriert riss sie an den Ketten, schloss die Augen und versuchte, regelmäßig zu atmen. Dann schien plötzlich jemand vor ihrem Gesicht mit den Fingern zu schnipsen, und sie musste an Jesse denken, der vor ihrer Bahamasreise die Zahlenschlösser an den Samsonite-Koffern eingestellt hatte. Am Ziel angekommen, hatte er die Zahlenkombination vergessen. Sie stellte sich die Koffer vor und hatte eine Idee. Eine absolut schräge Idee. Sie würde mit Sicherheit nichts bringen, aber trotzdem …
    Sie schlug die Augen wieder auf. Was war, wenn LeBelle sich gar nicht die Mühe gemacht hatte? Wenn er die Kombination des Herstellers gar nicht geändert hatte? Er hatte es jedenfalls nicht getan, als sie schon im Sarg lag, das konnte sie mit Sicherheit sagen. Nein, das wäre zu einfach. Natürlich hatte er das schon vorher erledigt, genauso wie er den Sarg schon in das Grab befördert und ihn mit der ganzen Elektronik ausgestattet hatte.
    Aber sie drehte trotzdem an den Rädchen, bis sie auf null, null, null standen.
    Das Schloss klickte.
    Das kann nicht sein!
    Ha!
    Sie wollte über ihren Triumph laut loslachen. Sie streckte eine zitternde Hand aus, soweit die Kette ihr das erlaubte, und klappte mit der anderen gefesselten Hand die Manschette auf. Sie befreite die Hand aus der Manschette und wiederholte die Prozedur mit der anderen Hand. Sie rieb sich die Handgelenke, aber der Sarg hinderte sie daran sich aufzusetzen, sodass sie ihre Beine nicht losmachen konnte. Aber zumindest waren ihre Arme nicht mehr gefesselt. Mit einer raschen Bewegung wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht.
    So weit, so gut!
    Doch was sollte sie jetzt tun?
    Was jetzt?
    Die Stille donnerte in ihren Ohren.
    Sie trommelte gegen den Sargdeckel, und es ertönte ein gedämpftes bum, bum, bum. Sie drückte unter Aufbietung all ihrer Kräfte mit den Handflächen gegen den Deckel. Er fühlte sich sehr solide an und bewegte sich keinen Millimeter. Sie wollte auch noch die Knie dagegenpressen, aber die Ketten reichten dafür ganz knapp nicht aus – schlau ausgedacht.
    Ihr entfuhr ein verzweifelter Aufschrei.
    »Was nun?«, fragte sie sich. Ein merkwürdiger Geruch stieg in ihre Nase. Es roch ein wenig nach Plastik und Teer. Sie versuchte, den Kopf zu

Weitere Kostenlose Bücher