Schlaf, Kindlein, schlaf
heben, aber ihr wurde schwindelig. Er musste ihr etwas gegeben haben, wovon der Schwindel kam und wodurch sie alles verschwommen sah. Sie fror ganz furchtbar und hatte die Orientierung verloren. Waren das Anzeichen von Hypothermie? Oder konnte man nur in kaltem Wasser an Unterkühlung leiden? Sie wusste es nicht. Sie atmete immer schneller – vielleicht hyperventilierte sie?
Ihr Blick wurde immer unschärfer, und sie musste mit den Augen blinzeln und zwinkern, um wieder klar zu sehen. Was ging hier vor? Im nächsten Augenblick vergaß sie, wo sie sich befand. Wo war sie? Ihre Wahrnehmung war nun stark beeinträchtigt – irgendetwas in ihrem Gehirn funktionierte nicht richtig. Sie registrierte den Geruch von Tod. Es war ihr eigener Tod, und für einen Sekundenbruchteil sah sie ihr Gesicht vom Schatten der schwarzen Kapuze verdeckt, die der Tod zu tragen pflegt. Sie merkte, dass sie gegen irgendetwas ankämpfte, aber was war das? Vielleicht war der Tod ihr Gegner? Er war der Gegner aller Lebewesen!
Die Seitenwände des Sargs wurden konturlos, schattenartig und unscharf. Ihr fielen die Augen zu, doch sie zwang sich, sie offen zu halten und ruhig zu atmen. Konzentration! Nimm dich zusammen!
Im Sarg schien es kälter geworden zu sein.
»Ich bin hier!«, sagte sie laut. Ihre Stimme klang heiser, sodass sie sogar ein bisschen Angst davor bekam.
Du bist tot, flüsterte eine Stimme.
NEIN!
Konzentration!
Welcher Tag war heute? Vielleicht ein Feiertag? Aber welcher Feiertag? Sie blinzelte, um die Augen offen zu halten, und versuchte, sich an die Bahamas zu erinnern. Zählte man auch die unbewohnten Inseln mit, waren es etwa siebenhundert – genügend Reiseziele: Grand Bahama, Harbour Island, Eleuthera, New Providence, Andros, Exuma, Bimini, Paradise Island, San Salvador …
Nein, nein. Long Island … Cat Island … Máires Augen fielen langsam zu.
26
Es war wie eine Illusion. Der Gang neigte sich zuerst in die eine Richtung, dann in die andere, und die Dunkelheit verstärkte das Gefühl, dass alles völlig unwirklich war.
Valerie stand an einer Weggabelung und überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Es schien, als hätte sie den Keller ganz für sich allein. Sie war so weit durch die Korridore zurückgehumpelt, um sich zu verstecken, dass sie nicht mehr wusste, wo sich die Treppe befand, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie allein war. Immerhin war sie nicht durch das gesamte Kellersystem gekommen, so viel war klar.
Sie kam sich wie eine kurzsichtige Katze vor. Sie konnte kaum etwas sehen, aber doch so viel, dass sie die schimmernden glatten Kalksteinwände und den Boden voneinander unterscheiden konnte, wenn sie ihre Augen anstrengte.
Sie hörte von irgendwoher das leise Schlagen einer Uhr und wählte die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Sie hatte einen Stoffstreifen von ihrem Hemd abgerissen und ihn stramm um ihren Knöchel gewickelt. Die Ketten an ihren Armen rasselten leicht bei jeder Bewegung, und es war fast unmöglich, mit dem schweren Totenhemd zu laufen, das viel zu warm war und sich bei jedem Schritt zwischen ihren Beinen verfing, obwohl der Lumpen nur bis zur Wade reichte. Sie hätte es gerne abgelegt, aber sie trug nichts darunter. Sie spürte, wie sich ihre Pobacken und Brüste unter dem Stoff bewegten, und setzte ihren Weg in gebeugter Haltung fort. Ihr Knöchel schmerzte immer noch, konnte aber ihr Gewicht tragen – dank des Verbandes. Ob das Gelenk auch noch mitmachte, wenn sie um ihr Leben rannte, war eine andere Frage.
Mindestens eine Stunde war verstrichen, seit Máire nach oben gegangen war. Sie trug keine Uhr – die ihr bei dieser Dunkelheit ohnehin nichts genutzt hätte, aber sie war sicher, dass zu viel Zeit vergangen war. Es musste etwas passiert sein.
Valerie konnte nicht länger warten. Sie war wie hypnotisiert gewesen vor Angst – und durch die Geschehnisse der letzten vierundzwanzig Stunden: im Keller an eine Wand gekettet zu sein, die Begegnung mit ihm, das schlimmste Erlebnis ihres bisherigen Lebens. Aber die Angstwelle und die lähmende Verwirrtheit begannen, abzuklingen und in Wut umzuschlagen, eine schmerzvolle, bittere Wut. Sie war nicht länger paralysiert, jedoch von einer grausamen Vorahnung überwältigt. Eine Vorahnung, dass Máire etwas Schlimmes zustoßen würde – wenn das nicht schon geschehen war. Ihr traten Tränen in die Augen. Sie hätte ihre Freundin niemals allein nach oben gehen lassen dürfen. Valerie lief vor schlechtem
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