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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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ihren Blättern im Wind. Aus der Ferne hörte sie den heiseren Klageruf einer Krähe. Sie holte Luft und schrie aus vollem Hals. Sie schrie und schrie.
    Dann senkte sich der rosafarbene Deckel auf sie herab. Das Schloss klickte und ihre Schreie verstummten. Die negativen Nachbilder des Halbmonds schwebten als blassgelbe Kreise auf ihrer Netzhaut. Dann verschwanden auch sie.
    Und es wurde finster.
    Das Geräusch von Erde und Schotter, die auf den Sarg prasselten.
    Danach beherrschte die Stille ihre Sinne, sie durchdrang das Holz wie eine riesige Orgelpfeife.
    Ein kläglicher Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Gott im Himmel, sag, dass das nicht wahr ist!«, flüsterte Máire.
    Allmächtiger!

25
     
    Sie schrie. Immer wieder, bis die Muskeln am Hals hervortraten und aussahen wie Seile, sie schrie ihre Angst und Panik heraus, bis ihre Stimme in ihrer Kehle stecken blieb und nur noch in ihrem Schädel widerhallte.
    Nur die Stille antwortete.
    Oh hilf mir. Hilf mir, Gott! Lass mich sterben. Lieber Gott, lass mich sterben.
    Sie rang nach Luft.
    Lass mich sterben! Nur der Tod kann die Angst besiegen.
    Vielleicht gelang ihr es selbst? Sich irgendwie umzubringen …
    Oh Gott, musste sie wirklich in dieser Kiste unter der Erde sterben? Sie stieß einen gellenden, verzweifelten Schrei aus und riss hektisch an ihren Handfesseln. Sie spürte den Widerstand an den Handgelenken, riss und zerrte aber weiter an den Ketten, bis der Schmerz in den Knochen und Sehnen so groß war, dass ihr die Tränen in die Augen traten und das Atmen schwerfiel. Ihr Herz klopfte wie wild, und der Schweiß rann ihr an den Schläfen hinunter.
    Ihr wurde schwarz vor Augen. Und einen Moment lang gab es nur Finsternis und Leere, als hätte ihr Bewusstsein sie verlassen. Es fühlte sich an, als hätte sie Fieber, und sie schlotterte. Aber das Bewusstsein kam zurück. Erschreckend klar.
    Du kannst davon ausgehen, dass du hier unten sterben wirst, sagte eine kalte resolute Stimme in ihrem Kopf.
    STERBEN!
    Verstehst du das? Das Leben, das du dir nie gewünscht hast, ist zu Ende.
    Überstanden. Der letzte Vorhang ist gefallen.
    Ja, ich verstehe das, antwortete sie lautlos. Ich begreife auch, dass alles viel zu langsam geht.
    Nur die Ruhe, morgen bist du mit Sicherheit tot.
    Die Stimme lachte laut und durchdringend. »Halt dein verdammtes Maul«, brüllte Máire.
    Der Tod macht, was er will. Der Tod macht nur das, was er will und wann er es will, und du kannst absolut nichts dagegen tun.
    Sie versuchte, die Stimme ihres Richters zu ignorieren, die in ihrem Kopf herumspukte. Sie atmete tief ein und horchte. Die Geräusche von oben waren verklungen. Aber sie konnte einen gedämpften, einschläfernden Laut irgendwo in der Dunkelheit hören. Es hörte sich an wie eine Sauerstoffflasche. Bestimmt handelte es sich um das Lachgas, oder was immer das war. Etwas war undicht oder auch nicht. Oder das war beabsichtigt. Aber das spielte keine Rolle.
    Sie wollte nur noch schlafen, für immer verschwinden und von Angst, Schmerz und Sehnsucht befreit werden. Und vergessen.
    Endlich vergessen.
    Sie schloss die Augen.
    Aber in der Schwärze hinter den Lidern sah sie ein hübsches Gesicht – das Jesse in gewisser Weise ähnlich sah und ihm auch wieder nicht ähnelte. Es rief ihren Namen. Sie konnte seine Stimme hören. Sie wurde von den Holzwänden des Sargs wie ein fernes Echo zurückgeworfen. Sie wollte die Augen öffnen, aber die Lider waren so schwer wie Blei. Ihr schwindelte, und es kam ihr so vor, als hätte sie ihr Gehör verloren.
    Máire bekam kaum noch Luft. »Jesse!«
    Bleib ruhig, Máire, hauchte die Stimme. Dann kam ein Paar weißer Hände zum Vorschein. Lange schlanke Pianistenfinger streichelten ihre Wangen, und ein samtweicher Mund küsste ihre Stirn.
    Dann entfernte er sich ein wenig und legte ihr die Hände auf die Schultern. Wie ein Engel mit Laute stand er da, ein weißes Wesen aus Luft und Nebel, einzig beseelt von ihrem innigsten Wunsch. Und er war trotzdem so bestechend lebendig, dass sie den schwachen vertrauten Duft seines Moschus-Aftershaves riechen konnte, der ihn umgab. Und sie konnte den Staub auf seinen Schuhen erkennen. Vielleicht hatte sie vor lauter Verzweiflung seinen Geist angerufen, ungefähr so wie das Mädchen aus Der Exorzist, das unfreiwillig einen Dämon gerufen hatte. Vielleicht geleitete er sie in den Tod? Und war jetzt gekommen, um sie zu holen. Vielleicht konnte sie darauf hoffen, den Schwebezustand zu erreichen. Sie unterdrückte ein

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