Schlaf, Kindlein, schlaf
schemenhaft erkennen. Eine Stimme in ihrem Innern schrie: Jetzt! Jetzt!
Dann hörte sie, wie der Spaten gegen etwas Hartes stieß, und hielt den Atem an.
Marlon LeBelle machte die Taschenlampe an und leuchtete in das Grab. Máire reckte den Hals, lehnte sich über den Rand und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Mit Schrecken sah sie, dass ein Sarg in der Erde bereitstand – eine sechseckige Kiste aus Mahagoniholz, auf deren Deckel ein Kreuz eingraviert war.
Wollte er etwa eine Leiche ausbuddeln?
Kurz hielt er den Lichtkegel auf ihr Gesicht. Durch ihre zugekniffenen Augen konnte sie seinen massigen Oberkörper mit den muskulösen Armen erkennen, und sie dachte, er würde sie ohne Weiteres mit seinen bloßen Fäusten umbringen können. Sie wandte den Blick ab. Sie wusste, dass ihr der Schweiß auf der Stirn stand und Tränen ihre Wangen hinabrannen. Und sie schlotterte.
»Guck mich an, du Schlampe! Wie hast du mich gefunden?«
Sie sah ihn trotzig an. »Du kannst mich mal!«
»Gut«, erwiderte er und nickte. »Wenn du es so willst.«
Sie hatte unwillkürlich zu dem Gewehr hinübergeschielt, das knapp einen Meter von ihr entfernt lag. Falls ihm das aufgefallen war, ließ er sich nichts anmerken.
»Der hier ist für dich«, sagte er und lachte. »Du bist hier der Ehrengast!«
Ein Schrei entrang sich Máires Kehle und entwich ihrem Mund.
Hier sollte ihr Leben enden? Auf diese Weise? Für einen Sekundenbruchteil sah sie sich selbst tot im Sarg liegen. Einen Moment lang spekulierte sie, ob sie Schmerzen spüren oder sofort sterben würde. Das kam natürlich darauf an, ob er ein guter Schütze war. Er war sicher nicht schlecht und würde sie aus nächster Nähe erschießen. Alles würde in Sekundenschnelle vorbei sein, das wusste sie bestimmt. Sie wollte schnell getötet werden. Ein Schwindelanfall überkam sie, und sie konnte den brennenden Schmerz der sich zwischen ihre Rippen bohrenden Kugel fast schon physisch spüren. Der Refrain eines Liedes hallte in ihrem Kopf: One day your life will flash before your eyes. Make sure it’s worth watching! Oder vielleicht war das gar kein Lied, sondern nur etwas, was sie irgendwo gehört oder gelesen hatte … Was hatte sie in ihrem Leben erreicht, woran zu erinnern sich lohnte? Jetzt, im Angesicht des Todes, war alles weg. Die mentale, pastellfarbene Filmvorführung fand nicht statt. Vielleicht später? Wenn die Kugel getroffen hatte und der Körper sich meilenweit von der Seele entfernt anfühlte. Der Augenblick der Wahrheit, von dem alle redeten. Sie starrte ihn an, und als er sich räusperte, fuhr sie zusammen.
Er wischte die restliche Erde an den Seiten herunter, kletterte aus dem Grab und legte sich auf den Bauch, um den Sargdeckel zu öffnen. Máire schaute hinunter und sah mit Schrecken, dass das Sarginnere mit rosafarbener Seide ausgekleidet war. Ihr Blick glitt weiter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie wehrte sich gegen einen hysterischen Zusammenbruch. Oh Gott! Innen war der Sarg mit allerlei Elektronik aufgestattet: steife graue spaghettiartige Drähte, Ventile und ein paar Apparate, die so aussahen wie Router. Sie konnte die leisen Pieptöne hören, die die Geräte aussandten. Sie ließ ihren Blick weiterwandern, bis er an einem kleinen Behälter mit der Aufschrift Distickstoffmonoxid hängen blieb, der an einer Seite des Sargs festgebunden war. War das Lachgas? Das kannte sie noch von ihren Zahnarztbesuchen.
Was zum Teufel wollte er denn damit? … Mal sehen, dachte sie. Ein Gummischlauch war mit Riemen am Fußende des Deckels befestigt. Er machte ihn los, öffnete ein Ventil und Máire hörte ein scharrendes Geräusch, als er ein Schlauchende durch ein Loch im Sargdeckel nach oben zog. Einen Moment lang starrte sie ihn verständnislos an, dann riss sie vor Angst ihren Mund auf, es war die finsterste Angst, die sie jemals erlebt hatte. Jetzt begriff sie, wozu der Schlauch diente. Ihr Magen zog sich vor Panik zusammen. Es ging um Luftzufuhr! Der Schlauch war exakt so lang, dass er aus der Erde herausragte! Um auf diese Weise Sauerstoff einzuatmen. Wie durch einen Strohhalm. Sie stieß einen halb erstickten Schrei aus. Oh GOTT! Heilige Jungfrau Maria! Er wollte sie gar nicht umbringen – jedenfalls nicht sofort. Er wollte sie begraben – bei lebendigem Leib! Sie konnte ihre Angst fast schmecken und dachte, sie müsste sich übergeben oder würde ohnmächtig.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten für dich«, sagte er.
Sie wechselten
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