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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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einen langen Blick über den Sarg hinweg. Sein Gesicht war so leblos wie ein verblasstes Bild, aber er schien sich innerlich diebisch zu freuen: Seine Augen verrieten ihn. Das Böse funkelte unheimlich unter seiner dichten Haartolle. Während er sie beerdigte, würde er pfeifen und triumphieren.
    Jetzt war es ihr egal, ob sie ihm diese Befriedigung gönnte, egal, ob sie allen Stolz und alle Selbstachtung verlor: Sie verlor etwas ganz anderes, und das war viel schlimmer. Máire schrie, verzweifelt und gellend, immer wieder, und warf sich auf das Gewehr, doch weiter kam sie nicht. Er packte ihr Haar im Nacken und zog, sodass sie dachte, er würde ihr das Genick brechen. Voller Schmerz und Angst stieß sie einen halb erstickten Laut aus.
    »Oh nein! Hör auf. Ich bitte dich!« Aber es war sinnlos. Er würde sie lebendig begraben, ganz gleichgültig, was sie tat oder sagte, wie sehr sie flehte und bat. Sie war vollkommen preisgegeben. Ihre Arme und Beine fühlten sich so kraftlos an wie Gelee. Sie konnte nichts tun. Es war zu Ende. Vorbei. Sie schloss die Augen und glitt in einen traumartigen Zustand. Sie merkte, dass er sie hochhob und zum Grab trug, in die Grube sprang und sie in den Sarg legte. Kies und Erde regneten auf sie herab und der klamme Seidenstoff umfing sie wie Fangarme. Der Geruch von Tod und feuchter Erde strömte aus jeder Faser des Gewebes. Widerwärtig. Ihr Körper spannte sich wie eine Feder, und sie streckte ihre gefesselten Arme nach seinem Gesicht aus. Dieses Mal schlug er sie nicht, trat nur mit einem grünen Gummistiefel auf ihr Zwerchfell, damit sie sich nicht aufsetzen konnte. Sie schrie und krümmte sich.
    Dann geschah alles in einer einzigen Bewegung: Er beugte sich zu ihr herunter – sie sah etwas Metallenes in seiner Hand aufblitzen. Ein Messer! Wie gnädig! Sie schloss die Augen, spannte die Muskeln an und wappnete sich für den Schmerz.
    Aber er kam nicht.
    Sie hörte ein Surren und spürte, dass die Kabelbinder gelöst wurden, mit denen ihre Handgelenke und Fußknöchel zusammengebunden waren. Máire fuhr zusammen und schlug die Augen auf.
    »Wenn du dich rührst, schlitze ich dich auf wie ein Schwein«, sagte er und wedelte mit dem Messer vor ihrem Gesicht. In seinen Blick war wieder diese Leere getreten.
    »Zur Hölle mit dir!«, brüllte sie. Sie versuchte, ihn zu schlagen, zu kratzen und an den Haaren zu ziehen. Ihm fiel das Messer aus der Hand, und er fluchte.
    Máire traf ihn seitlich am Kopf, aber ihr Schlag hatte nicht genug Wucht, um ihn zu Fall zu bringen. Er griff nach ihrem Arm und drückte ihn grob nach unten. Sie versuchte noch, ihn im Gesicht zu kratzen, doch er setzte sich rittlings auf ihren Brustkorb und zog ruckartig an irgendetwas. Sie hörte eine Kette rasseln, und etwas Metallenes schloss sich mit einem Klicken um ihr Handgelenk. Máire wollte den Arm anwinkeln, aber die Bewegung wurde gestoppt. So gut sie konnte, hob sie den Kopf und stellte fest, dass sie mit dem Handgelenk an den Sarg gekettet worden war.
    Sie wand sich wie eine Verrückte, trat um sich und versuchte, ihm mit der anderen Hand die Augen auszukratzen, während sie so laut schrie, wie sie konnte. Aber ein kraftvoller Schlag in die Zwerchfellgegend presste pfeifend die Luft aus ihrer Lunge. Auf ihrem Gesicht vermischten sich Tränen mit Schweiß, sie versuchte zu rufen, konnte aber nicht mal mehr Luft holen.
    Völlig kraftlos lag sie da, während er ihre freie Hand und ihre Fußgelenke an die Ketten legte, die an den Sarginnenwänden befestigt waren. Die Ketten ließen ihren Armen und Beinen einen Bewegungsradius von zehn Zentimetern. Jetzt befand sie sich ganz in seiner Gewalt, in der morastigen Erde, gefesselt an einen Sarg.
    Er prüfte, ob die Eisenmanschetten an den Handgelenken eng genug saßen, verband ein paar Schläuche miteinander und rieb sich die Hände. Er erhob sich, blieb aber an die Grabwand gelehnt stehen, um alles noch einmal zu begutachten. Dann kletterte er nach oben und legte sich auf den Bauch, um den Deckel zu schließen.
    »Zu Staub sollst du werden. Aber nach dem Tod wirst du weiterleben. Jetzt sollst du wie die Toten schlafen«, sagte er.
    Máire stieß einen halberstickten Schrei aus, verrückt vor Angst. »NEIN!« Sie riss ihre Beine und Arme nach oben und versucht, sich aufzusetzen, wurde jedoch von den Ketten daran gehindert.
    Oben am Himmel zogen dunkle Wolken Richtung Osten am Mond vorbei. Die Baumkronen, die ihre breiten Schatten auf das Grab warfen, raschelten mit

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