Schlaf, Kindlein, schlaf
darum, nicht den Verstand zu verlieren und hysterisch zu werden, wie sie bisher noch nie zuvor gekämpft hatte.
Sie drehte den Kopf, streckte die Hand und spreizte die Finger, doch die Kette hielt sie zurück.
Oh Gott, hilf mir!
Sie konnte nichts sehen, einerseits, weil ihre Augen blind waren vor Tränen, die sich anfühlten wie verstrichenes Gelee, andererseits, weil sie in vollkommener Finsternis lag. Sie holte in dem engen Grab Luft und spürte ihren Puls in den Schläfen pochen. Ihr Hals war so rau, als hätte sie Glasscherben gegessen.
Ich bin die Auferstehung und das Leben.
Wer an mich glaubt, wird ewig leben …
Sie sog ein paarmal tief Luft ein und versuchte, nicht in Panik zu geraten und ihre klaustrophobischen Anwandlungen in Schach zu halten.
Oh Gott! Du hast die Toten zum Leben erweckt …
Dann hörte sie ein Piepen, und direkt vor ihrem Gesicht leuchteten grüne Digitalziffern auf. Dann ging ein silbriges Lämpchen über ihrem Kopf an. Es gehörte zu einer Kamera, und Máire vermutete, die grünen Ziffern zeigten an, dass sie aufnahm. Dieses Psychopathenschwein wollte wohl ihre Todesqualen aufnehmen.
»Zum Teufel mit dir«, schrie sie hysterisch.
Warum war sie so naiv gewesen zu glauben, dass sie C.J. … ganz alleine … retten konnte? Und Buße tun konnte? Máire starrte hilflos den rosa ausgekleideten Sargdeckel an und wartete darauf, dass die nächste Panikattacke kommen und ihr das Atmen erschweren würde.
Hoffnungslos und völlig idiotisch! Wie hatte sie glauben können, einen Psychopathen auszutricksen, der, was Grausamkeit und Unvorhersehbarkeit anbelangte, eine Klasse für sich war? Wo war ihr gesunder Menschenverstand geblieben?
Sie hatte nicht die geringste Hoffnung, dass jemand nach ihr suchte. Niemand wusste, wo sie war, also konnte sie auch nicht damit rechnen, dass jemand kommen und sie retten würde.
Sie überlegte fieberhaft. Vielleicht würde Valerie sie finden. Máire schüttelte den Kopf. Sie würde längst tot sein, bis Valerie auf den Gedanken kam, dass sie hier draußen begraben sein könnte. Vorausgesetzt, Val selbst würde überleben. Sie würde hier liegen bleiben, bis sie verrückt werden oder ihr Blut zu Eis gefrieren würde. Möglicherweise würde sie an Hypothermie sterben. Ihre Arme fühlten sich schon jetzt taub an, und ihre Hände glichen mit gefrorenem Wasser gefüllten Handschuhen. Oder schlimmer noch: Sie würde hier liegen, bis sie in der Stille des Waldes und in ihren eigenen Exkrementen verrotten würde.
Oh Gott! Wann würde sie auf die Toilette müssen? Wann würde sie durstig werden? Hungrig? Wann würde sie zusammenbrechen und anfangen zu lallen? Verlor man den Verstand, bevor man starb? Wie lange würde der Todeskampf dauern? Eine Stunde? Zwei? War das eine Frage des Willens?
Sie dachte an C.J. Vielleicht war das hier Gnade?
NEIN! Sie unterbrach ihre Gedanken. Solchen Ideen wollte sie erst gar kein Gehör schenken. Die Situation würde nur noch widerwärtiger werden, das wusste sie. Aber sie durfte nicht so denken. Sie holte tief Luft und atmete wieder aus. Ungeachtet ihrer fürchterlichen Verfassung konnte sie jetzt nicht einfach aufgeben. Mit der Selbstkontrolle war es genauso wie mit Schwimmbewegungen im Wasser: Wer nichts unternahm, ging unter. Der Gedanke, nicht aufzugeben, erschien gleichzeitig vollkommen verrückt und absolut vernünftig.
Unter Aufbringung all ihrer Willenskraft gelang es ihr, die Selbstkontrolle zurückzuerlangen. Sie war stark, stark und optimistisch – ihr Optimismus und ihre unverwüstliche Hoffnung waren schon immer ihre Stärken gewesen, obwohl beides auf eine harte Probe gestellt wurde und schon recht mitgenommen war. Es half nichts, das Negative zu fokussieren, auch wenn es im Moment nicht viel Positives gab. Sie konnte einfach nicht aufgeben. Sie musste sich helfen, sich und Valerie und C.J. Sie musste hier raus. Und wenn sie sich durch den Sarg hindurchnagen musste …
Positiv denken!
Warmer Schweiß perlte auf ihrer Stirn und fühlte sich an wie Schleim.
Gab es denn überhaupt etwas Positives, woran sie sich halten konnte?
Ja, doch! Selbstverständlich! Jetzt konnte sie in die Kamera hineinsehen. Sie blickte in zwei kleine Lampen, die ihr Gesicht matt beleuchteten. Sie sah an sich hinunter und versuchte, die Hände aus den Manschetten zu ziehen, doch das war vollkommen unmöglich. Sie saßen viel zu eng. Um die Hände zu befreien, müsste sie sich beide Daumen an den Grundgelenken abtrennen. Obwohl sie
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