Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
Vom Netzwerk:
zerrann ihr die Zeit zwischen den Fingern. Valerie durchquerte die Eingangshalle und lief durch die Haustür ins Freie.
    Stille durchdrang die Nacht auf eine völlig unnatürliche Art und Weise – wie ein Fluch in einem Märchen. Und die Luft war so schwer und feucht wie in einem Dampfbad.
    Sie ließ ihren Blick schweifen, um sich einigermaßen zu orientieren. Die Umgebung ähnelte einer alten Plantage. Zur Rechten lag ein quaderförmiger Holzbau – eine Garage oder ein Anbau, der mit nachtschwarzen Schlingpflanzen bewachsen war. Zur Linken führte eine Fahrspur einen Weg hinauf, der mit kleinen Büschen und kniehohem Gras zugewuchert war und auf dem herabgefallene Äste lagen. Sonst standen, soweit sie sehen konnte, nur uralte knorrige Eichen mit langen silbrig schimmernden Schleiern aus spanischem Moos auf dem großen Grundstück. Nachbarhäuser waren nirgends zu sehen.
    Geparkte Autos ebenso wenig. Vielleicht war er mit Máire weggefahren? Valeries Herz pochte noch schneller.
    Sie lief auf die Rasenfläche, wo das Gras ihr fast bis zur Taille reichte, und bahnte sich einen Weg durch das von Gestrüpp überwucherte Gerümpel. Sie merkte, dass sie sich an irgendetwas den Fuß aufschrammte, aber das war ihr gleichgültig. Sie rannte weiter auf den Anbau zu. Das musste die Garage sein; sie konnte die mit Moos und dünnen Zweigen bedeckten Umrisse der Einfahrt sowie eine Tür an der Seite ausmachen. Vielleicht hielt er Máire da drinnen gefangen?
    Sie umrundete das Gebäude, um festzustellen, ob es ein Fenster gab, durch das sie hineinsehen konnte. Es gab keins. Sie lief wieder zurück und legte ihr Ohr an die Tür. Drinnen war es still.
    Dann drückte sie vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen. Aber weder Máire noch ein geparktes Auto waren hier. An der Wand hing neben allen möglichen anderen Werkzeugen ein alter Klauenhammer. Für den hatte sie eventuell Verwendung. Damit konnte sie seinen verfluchten Schädel einschlagen, ihn wie eine Walnuss spalten – das würde sie mit wahrer Freude tun, so wahr mir Gott helfe, und das Schwein dahin schicken, woher es gekommen war.
    Sie ließ ihren Blick schweifen, um etwas zu finden, womit sie die Kette oder das Schloss knacken konnte. Ein Bolzenschneider und eine Axt mit blanker Klinge hingen nebeneinander an der Wand. Mit der Axt riskierte sie, sich die Hand abzuhacken. Sie entschied sich für den Bolzenschneider. Er war schwer und unhandlich, außerdem konnte sie ihn nur mit einer Hand halten. Es war fast unmöglich, die Schneide unter den Bügel vom Vorhängeschloss zu schieben. Dass ihre Handflächen schwitzig und rutschig waren, machte die Sache nicht einfacher. Sie trocknete sie an ihrem Totenhemd und unternahm einen zweiten Versuch.
    Nun komm schon, verdammt! Valerie schwitzte.
    Ganz vorsichtig schob sie die Schneide unter den Bügel, legte sich auf die Seite, spannte die Bauchmuskeln an und verlagerte ihr ganzes Gewicht auf das große, unhandliche Gerät und drückte. Zuerst passierte nichts. Sie atmete tief ein und mobilisierte all ihre Kräfte. Es klang, als würde eine Gitarrensaite reißen, und das Vorhängeschloss war geknackt, die Manschetten ließen sich öffnen, und sie war frei. Sie berührte ihre Handgelenke: Die Haut war rundherum abgeschürft, der Bereich schmerzte und war angeschwollen, aber das spielte keine Rolle: Sie war frei!
    Sie griff nach dem Hammer und war schon im Begriff, wieder ins Freie zu schlüpfen, als sie hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde.
    Sie fuhr herum und spürte, wie ihre Haut im Nacken spannte. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit: immer noch keine Autos in der Auffahrt. Ihr Herz raste. Kein Mensch zu sehen. Sie wollte sich gerade etwas weiter herauswagen, als sie hörte, wie sich schwere Schritte der Garage näherten – Schritte, unter denen die Zweige am Boden knackten.
    Verdammt!
    Valerie hielt den Atem an, ließ die Tür vorsichtig los und drückte sich rasch an die Wand, wo er sie nicht sehen würde, wenn er die Tür aufmachte. Sie hielt den Hammer mit beiden Händen und hob ihn über den Kopf …
    Sie hörte scharrende, schlurfende Schritte von jemandem, der draußen über den Schotter ging. Trug er Gummistiefel? Sie hielt wieder den Atem an und heftete ihren Blick auf die Türklinke.
    Die Sekunden verstrichen langsam wie Minuten. Wie angewurzelt stand sie da … und überlegte kurz, was sie noch alles aushalten musste. Das alles kam ihr vor wie etwas, das jenseits ihrer Vorstellung

Weitere Kostenlose Bücher