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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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Gewissen ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Vielleicht hatte er die ganze Zeit dort oben gestanden und auf sie gewartet. Oh, warum hast du sie nur allein da raufgehen lassen? Sie verfluchte sich, weil sie alles andere als logisch gedacht hatte, ihre Logik war von abgrundtiefer Angst und Panik völlig außer Funktion gesetzt worden. Sie wappnete sich, um nicht wieder von Furcht übermannt zu werden.
    Schließlich erreichte sie den Treppenabsatz. Sie spürte einen warmen Luftzug von oben – richtige Luft, nicht diese stickige kranke Luft von hier unten. Die Stufen nahmen kein Ende. Sie hochzusteigen, kam einer Reise gleich. Sie schielte zurück – sie kam nicht umhin, irgendjemandem den Rücken in der Dunkelheit zuzudrehen, aber da war niemand, und sie begann, sich langsam die Treppe hinaufzuschleichen. Die Beine fühlten sich schwer an wie kanadisches Treibholz, und ihr Knöchel tat beim Abrollen unbeschreiblich weh.
    Sie hatte etwa die Hälfte der dunklen Kellertreppe hinter sich gelassen, als sie eine Männerstimme sagen hörte: »Was zum Henker machst du denn hier?«
    Valerie fuhr zusammen und griff nach dem Geländer, um nicht zu stürzen. Sie musste ihr ganzes Gewicht auf den verletzten Fuß verlagern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, ein scharfer Schmerz schoss durch ihren Knöchel. Die Kette rasselte schwach.
    Eine Angstwelle wogte in ihr auf wie ein Geist. Einen Augenblick lang dachte sie, der Mann redete mit ihr. Aber dafür war die Stimme zu weit weg. Außerdem war sie durch die Dunkelheit vollkommen geschützt. Hatte er sie womöglich gehört?
    Sie schluckte nervös, spürte, wie ein Schweißtropfen ihre Wange hinablief und am Kinn hängen blieb. Sie wischte ihn mit der Schulter weg.
    »Wie bist du hier reingekommen?«
    Das hörte sich nicht nach ihm an. Aber wer war es dann? Die Polizei? … Und mit wem sprach er?
    Wer immer es war, mit dem der unbekannte Mann redete, er antwortete nicht.
    Irgendjemand lief mit schnellen lauten Schritten über den Boden im Erdgeschoss, riss etwas um, es krachte, dann wurde es wieder still.
    Valerie erstarrte.
    Dann vergaß sie alles, vergaß, dass sich ihre Beine schwer anfühlten und ihr Knöchel schmerzte. Einen Augenblick herrschte totale Stille, dann hörte sie das leise Geräusch eines startenden Autos und den Schrei einer Frau, der den Motor übertönte und abrupt verstummte. Er schien aus weiter Ferne zu kommen – von draußen. Aber sie wusste genau, wer da geschrien hatte.
    Máire!
    Ohne zu überlegen, ob jemand sie hören würde, lief Valerie die Treppe hinauf. Sie erreichte die oberste Stufe, schlich über die Türschwelle und blickte den Gang hinunter. Es musste Nacht sein. Das ganze Haus ruhte im Dunkeln, obwohl hier und da ein schwacher Lichtschein hineindrang und eine rautenförmige Fläche auf dem Boden golden erscheinen ließ. Tintenschwarze Schatten sammelten sich in allen Ecken und Winkeln, man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Ihr Herz raste unter dem schweren Totenhemd, und sie schmeckte eine nahezu alkalische Trockenheit im Mund, als wäre ihr Speichel kristallisiert. Sie schluckte – oder versuchte es zumindest. Es war, als würde sie Mehl schlucken.
    Sie spürte, wie ihr die unsichtbaren Finger der Angst auf die Schulter tippten, aber sie durfte sich nicht von der Angst übermannen lassen. Sie nahm ihre gesamte Wut und Willenskraft zusammen und wollte einfach nicht an die Furcht denken.
    Lautlos tastete sie sich in der heißen Dunkelheit an der Wand entlang, um eins zu werden mit den langen Schatten, für den Fall, dass jemand auf den Korridor hinaustreten würde. Aber es war niemand zu sehen, kein neugieriges Augenpaar folgte ihr, niemand sprach sie an.
    Sie sah sich um. Zu beiden Seiten des Korridors waren die Türrahmen mit Efeu umrankt, etwa zwei Meter von ihr entfernt. Wohin die Türen führten, wusste sie nicht, aber sie tastete sich weiter voran.
    Über dem Haus lag eine beunruhigende, allumfassende Stille, abgesehen von einem Dielenbrett, das leise unter ihren Schritten knarrte. Sie hielt inne und horchte angespannt, doch sie hörte nichts. Vielleicht hatte sie sich das Geräusch auch nur eingebildet. Sie schlich weiter.
    Kurz darauf stand sie wie erstarrt in der Eingangshalle. Das Glück war auf ihrer Seite. Sie konnte die Haustür ganz schwach erkennen. Sie war angelehnt. Valerie zitterte am ganzen Körper. Sie hörte keinen Laut.
    Sie war zwar in Windeseile aus dem Keller nach oben gekommen, aber zweifelsohne

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