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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika von Holdt
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ihn zu überwältigen, oder abwarten und beobachten, was er vorhatte? Oder sollte sie versuchen, ihn abzulenken, sodass er irgendwie die Kontrolle über die Situation verlor? Sie überlegte. Es stand zu viel auf dem Spiel, falls sie scheiterte. Wahrscheinlich würde sie nicht mit heiler Haut davonkommen, wenn sie versuchte, es mit ihm aufzunehmen. Auf der anderen Seite – was wäre, wenn …
    Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Sie entdeckte, dass er ein Gewehr bei sich hatte. Er zog sein T-Shirt aus. Was machte er jetzt? Máire bewegte sich und sagte etwas zu ihm.
    Gott sei Dank, sie war noch am Leben.
    Er wandte Máire den Rücken zu und begann zu graben. Sie sagte wieder etwas. Sie hatte offenbar Angst und kroch weiter von ihm weg. Er schaufelte weiter, als hätte er sie nicht gehört. Valerie spitzte die Ohren, um zu verstehen, was sie wollte, aber sie war zu weit entfernt, als dass sie die einzelnen Wörter unterscheiden konnte.
    Valerie schlich sich vorsichtig näher heran und hockte sich hinter einen Busch. Sie wartete. Die Spatenstiche hallten in der Nacht. Was zum Teufel grub er da aus?
    Oh Gott! Er wollte Máire umbringen und sie hier draußen begraben! Das war sein Plan.
    Dann kam ihr ein eigenartiger Gedanke. Das war zu simpel. Das war für diesen Psychopathen nicht krank genug. Warum sollte er sich damit zufriedengeben? Wollte er Máire töten, hätte er das bereits getan. Valerie schloss die Augen und sah ihn vor sich: den Blick auf den Bildschirm geheftet, um per Computer alles zu verfolgen, eine Zigarette im Mundwinkel. Er genoss den Anblick, als sie gedemütigt und wie eine Gekreuzigte dahing, um im nächsten Moment vor seinen Augen gequält zu werden.
    Dann schrie Máire. Er schlug sie, zog sie an den Haaren bis ans Grab. Jetzt begriff Valerie, was er im Schilde führte. In der Angstsekunde, als er Máire ins Grab legte, entglitt der Hammer ihrer Hand.
    Er wollte sie lebendig begraben! Deshalb war sie nicht tot, deshalb hatte er sie nicht umgebracht. Dieses elende perverse Schwein.
    Valeries Herz pochte wie wild, und gelähmt vor Angst rang sie nach Luft. Das darf nicht wahr sein, hörte sie ihre innere Stimme wispern. Aber es war wahr. Zuerst kniete er sich neben das Grab, dann sprang er hinein. Sie konnte seinen breiten schweißüberströmten Rücken sehen und Máires Schreie hören. Dann wurde es plötzlich still, und Valerie sah, wie er irgendetwas anschloss. Kurz darauf hörte sie einen dumpfen Knall, als er etwas Schweres zuschlug.
    Valerie entschied sich gegen eine direkte Konfrontation und fixierte ihn wie gebannt, während er eine lange Leitung zu einem dunklen Gerät zog und beides miteinander verband. Sauerstoff? Dann schaltete er die Maschine an. Sie konnte ein schwaches Flüstergeräusch in der Nacht hören. Und sie konnte Máires panische Schreie hören, die jedoch gedämpft waren, als würde sie in ein Bündel Taschentücher schreien. Valeries Nackenhaare sträubten sich – schließlich lag Máire in einem verdammten Sarg.
    Er brauchte eine knappe Viertelstunde, um die Erde wieder in das Grab zu werfen, danach nahm er noch ein paar Korrekturen vor, sammelte Schaufel, T-Shirt und Gewehr ein und sah sich um.
    Valerie starrte ihm nach, als er das Gewehr schulterte, die Erde auf dem Grab festtrat und zwischen die Bäume huschte, wo er so flüchtig wie Rauch in die Nacht verschwand.
    Sie wartete einen Moment und behielt die Stelle im Blick, wo ihn der Wald geschluckt hatte, lauschte auf das Zischen des Sauerstoffgeräts und auf seine verklingenden Schritte. Schließlich war sie sicher, dass er weg war. Der Wald war wie ein Albtraum, nachdem er dort gewesen war. Nur noch ein Blendwerk aus geduckten Schatten und verzauberten Bäumen. Aber sie hielt den Blick auf die Realität gerichtet. Im Kopf war sie klarer denn je.
    Der einzige Vorteil war, dass er nicht wusste, dass sie entkommen war.
    Ihre Beine waren schwach, ihre Schritte unsicher, aber als seine letzten Tritte aus dem Wald verklungen waren, humpelte sie durch das Dickicht über Kies und Zweige, sodass ihre Fußsohlen schmerzten und bluteten, doch sie blieb nicht stehen, sondern versuchte nur, ihren Schmerz abzuschütteln, bis sie das dunkle Rechteck erreicht hatte und hektisch zu graben begann.
    Sie musste sich beeilen. Sie war Máires einzige Chance. Und sie hatte nicht unbegrenzt Zeit zur Verfügung. Die Erde war feucht und ließ sich leicht mit den Händen zur Seite schaffen: Sie grub mit beiden Handflächen und sämtlichen

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