Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
kleinen Wespen, und meine nasse Haut war wie eine Lupe, die meinen Schmerz und meine Demütigung noch vergrößerte. Mehr als alles andere ist mir das Klatschen auf meiner nackten Haut in Erinnerung geblieben, das von den Wänden widerhallte. Es gibt immer noch Nächte, in denen ich es höre, wenn ich die Augen schließe und schlafen will.
Ich schüttelte die Gedanken ab und tauchte meinen Kopf unter Wasser, sodass meine Haare auf der Oberfläche trieben wie Seetang. Sofort heftete sich eine neue unangenehme Erinnerung an die Innenseite meiner geschlossenen Lider: drei kleine grau-weiße Kätzchen, die ich, von ihrer Mutter verlassen, in einer Ecke unserer Garage entdeckt hatte, räudig, jammernd und »wahrscheinlich voller Spulwürmer«, wie meine Mutter verkündet hatte, bevor sie mir die Kleinen aus den Armen gerissen und im Garten in einem Eimer Wasser ertränkt hatte.
Ich lag in der Wanne, Wasser über meinem Gesicht wie ein Leichentuch, und versuchte vergeblich, die drei Kätzchen nicht vor mir zu sehen. Was war bloß mit mir los? Warum dachte ich in letzter Zeit ständig an meine Mutter?
Es war, als ob meine Mutter mit Alisons Ankunft nicht nur wieder ins Haus, sondern auch in meinen Kopf eingezogen wäre. Wahrscheinlich lag es an all den Fragen, die Alison gestellt hatte, an den Fotos, die wir gemeinsam angesehen hatten. Sie waren verantwortlich für meine seltsamen Träume und ungeplanten Zeitreisen in die Vergangenheit. Ich hatte seit Jahren nicht an die verdammten Kätzchen gedacht. Warum jetzt, Herrgott noch mal? Hatte ich während der langen schrecklichen Tage ihrer Krankheit nicht meinen Frieden mit meiner Mutter gemacht? Hatte sie mich nicht um Vergebung gebeten? Und hatte ich diese nicht großzügig gewährt?
Meine Mutter war eine äußerst beeindruckende Persönlichkeit, obwohl ich nicht sagen könnte, warum. Mit ihren eins fünfundfünfzig war sie alles andere als eine imposante Erscheinung, mit ihrem unverhältnismäßig großen Busen wirkte sie vielmehr eher komisch, wie eine zu groß geratene Taube, und auch ihre Gesichtszüge waren erstaunlich unausgeprägt und nichts sagend.
Ich glaube, was sie wirklich von anderen abhob, war ihre Haltung, die starren, stolz gereckten Schultern, der stur erhobene Kopf und die kleine himmelwärts gerichtete Nase, sodass man immer das Gefühl hatte, sie würde aus großer Höhe auf einen herabblicken.
Diese Haltung durchdrang jeden Aspekt ihres Lebens. Sie hatte zu allem eine unverrückbare Meinung selbst bei Themen, von denen sie wenig verstand. Sie war jähzornig und hatte eine spitze Zunge. Ich hatte früh gelernt, dass es zwecklos war, meinen Standpunkt gegen ihren zu vertreten, weil es nur einen gültigen Standpunkt gab.
Mein Vater wurde jedenfalls nur selten zu Rate gezogen. Wenn er eine Meinung hatte, behielt er sie für sich. Ich hatte gelernt, in nichts auf ihn zu zählen, und auf diese Weise hat er mich nie enttäuscht. Falls er irgendetwas bereute, nahm er es mit ins Grab.
Nach seinem Tod wurde meine Mutter noch wütender und ging bei der kleinsten Provokation auf mich los. Du dummes, dummes Mädchen , höre ich sie immer noch schreien, wenn ich mich bei irgendetwas besonders ungeschickt angestellt habe.
Als sich diese stolzen Schultern später dem Druck des Alters beugten und die Gebrechlichkeit die schärfsten Kanten abschliff, wurde sie nach und nach weniger imposant, weniger selbstgerecht, und ihr Hang zu giftigen Ausbrüchen drang weniger oft durch. Oder vielleicht wurde sie einfach insgesamt weniger. Nach ihrem Schlaganfall schrumpfte meine Mutter buchstäblich auf halbe Größe zusammen.
Und etwas Seltsames geschah.
Indem sie weniger wurde, wurde sie mehr, wie der Architekt Mies van der Rohe vielleicht gesagt hätte. Sie wurde toleranter, dankbarer, verletzlicher. Ihr Schatten schrumpfte auf halbwegs menschliche Größe.
Du weißt, dass alles, was ich getan habe, nur zu deinem Wohl war , sagte sie in diesen letzten Monaten ihres Lebens oft.
Das weiß ich , erklärte ich ihr. Natürlich weiß ich das .
Ich wollte nicht grausam sein .
Ich weiß.
So bin ich eben erzogen worden. Meine Mutter war mit mir genauso .
Du warst eine gute Mutter, sagte ich.
Ich habe viele Fehler gemacht.
Wir machen alle Fehler.
Kannst du mir vergeben?
Natürlich vergebe ich dir . Ich küsste die trockene, schuppige Haut auf ihrer Stirn. Du bist meine Mutter. Ich liebe dich.
Ich liebe dich auch , flüsterte sie.
Oder vielleicht auch nicht.
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