Schlaflos in Seoul
Angst
hatten, jemand könnte ihre Brustwarzen |161| sehen. Einmal fragte ich eine koreanische Freundin, warum eine weibliche Brustwarze so viel anstößiger ist als eine männliche
– die man in Korea durchaus ab und zu in der Öffentlichkeit sieht. Meine Freundin sah mich an, als hätte ich den Verstand
verloren.
Dass Koreanerinnen im Badehaus so viel freizügiger waren, fand ich verblüffend, aber eigentlich verständlich. In restriktiven
Gesellschaften wird Nacktheit oft als ein Ausdruck von Freiheit angesehen – was beispielsweise erklärt, warum FKK in Ostdeutschland
immer beliebter war als in Westdeutschland. Für mich war es logisch, dass Koreanerinnen mit ihren Kleidern im Badehaus auch
einen guten Teil ihrer Hemmungen ablegten und sich anders verhielten als in alltäglichen Situationen.
Auf dem Weg nach draußen konnte ich dann noch ein Rätsel lösen. An den hinteren Bereich der Umkleideräume grenzte ein Ruheraum
mit Matratzen. In dem Raum herrschte eine normale Zimmertemperatur, sodass ich mir vorstellen konnte, dort eine Nacht zu verbringen.
Es war erst vier Uhr nachmittags. Der Raum war leer – bis auf einen koreanischen Teenager, der auf einer Matratze lag und
SMS tippte.
|162| Taekwondo mit Master Ryan
Taekwondo – wenn ich an koreanischen Sport dachte, fiel mir als Erstes die traditionelle Kampfsportart ein. Ich dachte an
die gestählten jungen Koreaner, die ich im Fernsehen gesehen hatte, die mit ihren Tritten und Schlägen Holz und Ziegel zerbrachen,
die durch die Luft wirbelten und ihren Gegnern geschickt auswichen, bevor sie ihnen den entscheidenden Schlag versetzten.
Ich wollte schon lange Taekwondo lernen, fand in Berlin aber nie die Zeit dafür. Meine Freundin Berangère versicherte mir,
Taekwondo diene dem Stressabbau. Ein Versuch konnte nicht schaden. Also meldete ich mich bei der Hoki Taekwondo-Schule für
einen Probetag an.
Es war ein Freitagmorgen im August. Die Temperatur lag um neun Uhr schon bei über dreißig Grad und die Luftfeuchtigkeit bei
80 Prozent. Ich hatte, wie so oft, nachts kaum geschlafen. Müde schleppte ich mich zur U-Bahn . Die schwüle Hitze und der dumpfe Geruch von verrottenden Essensresten, die in Plastiktüten am Straßenrand auf die Müllabfuhr
warteten, erzeugten bei mir ein leichtes Schwindelgefühl.
Ich folgte der präzisen Wegbeschreibung, die mir ein Taekwondo-Lehrer namens Master Ryan per E-Mail geschickt hatte. Die Wegbeschreibung war auch nötig, denn in Seoul gibt es weder Straßennamen noch erkennbare Hausnummern.
Bis heute bewundere ich die koreanischen Postboten, die in diesem Wirrwarr jeden Tag die Post den richtigen Empfängern zustellen.
|163| Hoki Taekwondo befand sich in einem Seitengebäude des War Memorial Museum. Das Museum ist nicht, wie ich ursprünglich annahm,
ausschließlich den Opfern des Koreakriegs gewidmet, sondern liefert Informationen über alle Kriege, in die Korea jemals verstrickt
war – angefangen bei mongolischen und chinesischen Invasionen und der japanischen Besatzung von 1910 bis 1945, über den Koreakrieg
und den Vietnamkrieg, bis zu etlichen Missionen unter U N-Mandat , an denen koreanische Soldaten teilgenommen haben.
Am Tickethäuschen des War Memorial Museum wartete Master Ryans Assistentin auf die Teilnehmer des eintägigen Taekwondo-Programms.
Die Gruppe bestand aus sechs japanischen Touristen – darunter ein 8-jähriger Junge und eine Dame um die fünfzig – und mir.
Die Assistentin gab uns weiße Taekwondo-Uniformen und zeigte uns die Umkleideräume. Ich zog mich schnell um, weil ich bemerkte,
dass meine Anwesenheit den Japanerinnen unangenehm war. Als wir in den Übungsraum kamen, begrüßte uns Master Ryan und band
uns weiße Gürtel – die Gürtel für Anfänger – um. Er selbst trug den schwarzen Gürtel des Meisters. Master Ryan war Ende dreißig.
Sein Haar wurde langsam lichter, aber sein Körper war durchtrainiert. Stahlharte Muskeln zeichneten sich unter seinem Trainingsanzug
ab.
Wir fingen mit einfachen Dehnübungen an. In Berlin ging ich regelmäßig in eine Yogaschule nach Kreuzberg und hielt mich deswegen
für ziemlich beweglich. Beim Taekwondo scheiterte ich aber schon an der Aufwärmung. Ich konnte mein Bein nicht richtig strecken,
ich konnte es nicht hoch genug heben und ich konnte keinen der Tritte, die Master Ryan vormachte, auch nur annähernd nachahmen.
Nach einer Viertelstunde war ich außer Atem und spürte einen
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