Schlaflos in Seoul
einem vorbeispazieren.
Etwas preisgünstiger ist APM, wo ich zum ersten Mal das Konzept »Kaufhaus ohne Umkleidekabine« kennenlernte. Wenn man etwas
anprobieren möchte, bekommt man von der Verkäuferin eine Art überlangen Rock oder Umhang. Man wickelt sich darin ein, zieht
unter dem Umhang seine eigenen Kleider aus und probiert das Kleidungsstück an, das einen interessiert. Mich erinnert das immer
an ältere Damen in Ostsee-Strandbädern, die sich so in ihren Badeanzug zwängen.
Kleinere Läden und Stände verkaufen Handtücher, Bettwäsche, Handtaschen, Accessoires und Souvenirs. Nachts hat man den Vorteil,
dass das Verkaufspersonal nicht mehr so aggressiv ist wie tagsüber. Eine Eigenart koreanischer Verkäuferinnen besteht darin,
dass sie sich potenziellen Kunden an die Fersen heften, ihnen auf Schritt und Tritt folgen und auf sie einreden – egal ob
der Kunde den Wortschwall versteht oder nicht. Nimmt man ein Kleidungsstück von der Stange, um es genauer zu betrachten, wird
man schon misstrauisch beäugt. Hängt man es wieder weg, rückt die Verkäuferin es zurecht, als habe man irgendeine geheime
Ordnung missachtet, die nur sie kennt. Nachts sind die Verkäuferinnen schon leicht schläfrig und gehen mit ihren Kunden insgesamt
entspannter und freundlicher um.
|154| So kann man sich in Dongdaemun bis fünf Uhr morgens durch die Angebote der Kaufhäuser und Kleidermärkte wühlen, zwischen all
dem Plunder auch ein paar Schätze finden und zwischendurch an einem der Straßenstände kleine Snacks zu sich nehmen. Um fünf
Uhr schließt der Dongdaemun-Kleidermarkt für ein paar Stunden. Das ist dann normalerweise auch die Zeit, zu der die Bauarbeiter
nicht arbeiten und man endlich für ein paar Stunden schlafen kann. – Und irgendwann werden auch die umfangreichsten Bauarbeiten
abgeschlossen.
|155| Nacktsein erlaubt
Stress ist eine Volkskrankheit in Korea, die auf Neuankömmlinge sehr ansteckend wirkt. Wer sich das koreanische Stresssyndrom
eingefangen hat, sucht oft auch nach koreanischen Heilmitteln, die Linderung versprechen. Koreanische Antistressmittel gibt
es viele. Oft sind es bittere Tees und noch bitterere Säfte. Die beste Medizin gegen Überforderung, Müdigkeit und die Nachwirkungen
von übermäßigem Alkoholkonsum ist jedoch eine, die man nicht schlucken kann. Sie heißt Jimjilbang – das koreanische Wort für
öffentliches Badehaus.
Das erste Badehaus, das ich besuchte, war in der Nähe der Ewha-Universität. Tagsüber kostete der Eintritt 5000 Won. Wer über Nacht bleiben wollte, musste 8000 Won zahlen. Über Nacht in einem Badehaus zu bleiben, klingt skurril, ist aber eigentlich sehr praktisch. Badehäuser sind in
Seoul eine preiswerte Übernachtungsalternative zu Hotels und Motels. Studentenwohnheime haben normalerweise eine Sperrstunde.
Wer nicht bis Mitternacht zurückkommt, wird einfach ausgesperrt. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: entweder brav vor Mitternacht
nach Hause zu gehen oder die ganze Nacht wegzubleiben. Neben denen, die von ihrer eigentlichen Bleibe ausgesperrt wurden,
gibt es diejenigen, die nach Hause gehen könnten, aber einfach zu betrunken sind, um den Weg zu finden. Für die Ausgesperrten
und die Sturzbetrunkenen wird das Badehaus zum nächtlichen Zufluchtsort. In Ruheräumen kann man auf bequemen Matratzen schlafen
und in den verschiedenen Bade- und Saunaräumen kann man ausnüchtern.
|156| Wie es der Natur eines Badehauses entspricht, ist man während des Aufenthalts im Jimjilbang nackt. Bei meinem ersten Besuch
staunte ich also nicht schlecht, als die Dame an der Rezeption mir nicht nur ein winziges Handtuch überreichte, sondern auch
ein pinkfarbenes T-Shirt und eine unförmige pinkfarbene Hose – meiner Meinung nach die unvorteilhaftesten Kleidungsstücke, die ich jemals gesehen
hatte. Ich fragte, wofür diese pinkfarbene Uniform gedacht sei. Mir wurde erklärt, dass das Badehaus in einen Bereich für
Männer, einen für Frauen und einen gemischtgeschlechtlichen Bereich eingeteilt sei. Die Uniform trug man, wenn man Letzteren
betrat. Das erschien mir logisch, denn ich hatte von mehreren Koreanern gehört, dass sie aus Versehen bei einem Deutschlandbesuch
in eine gemischtgeschlechtliche Sauna hineingeraten waren – die für sie offensichtlich ein unbekanntes Konzept war. Eine meiner
koreanischen Freundinnen sagte: »Das war der totale Kulturschock!« Ein junger Koreaner, der eine ähnliche
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