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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sahen einander an, zuckten die Achseln, hoben sie wieder auf und trugen sie zu ihrem Streifenwagen zurück. Dort, wo sie in den Rasen hatten fallen lassen, waren mehrere tiefe Abdrücke zu sehen.
    Hoffentlich ist sie in Ordnung, dachte Ralph. Hoffentlich ist sie - und alle anderen, die bei ihr im Haus gewesen sind - in Ordnung.

    Der Detective erschien wieder in der Tür, und Ralphs Hoffnung sank, als er den Männern winkte, die hinter dem Krankenwagen standen. Zwei zogen eine Bahre mit ausklappbarem Fahrgestell heraus; der Dritte blieb, wo er war. Die Männer mit der Bahre gingen schnellen Schrittes den Fußweg entlang zum Haus, aber sie rannten nicht, und als der Sanitäter, der zurückgeblieben war, eine Packung Zigaretten aus der Tasche holte und sich eine anzündete, da wusste Ralph plötzlich - ganz genau und ohne jeden Zweifel -, dass May Locher tot war.

6
    Stan und Georgina Eberly gingen zu der niedrigen Hecke, die ihren Vorgarten von Mrs. Lochers trennte. Sie hatten einander die Arme um die Taillen gelegt und sahen für Ralph wie eine alte, fette und ängstliche Ausgabe der Bobbsey-Zwillinge aus der gleichnamigen Kinderbuchserie aus.
    Nun kamen auch andere Nachbarn heraus, die entweder von den Blinklichtern wach geworden waren, oder weil das Telefonnetz in diesem kurzen Abschnitt der Harris Avenue schon heiß lief. Die meisten Leute, die Ralph sah, waren alt (»Wir Leute im goldenen Alter«, pflegte Bill McGovern zu sagen, selbstverständlich immer mit seiner sardonisch hochgezogenen Braue), jene Männer und Frauen, deren Schlaf schon unter günstigsten Bedingungen oberflächlich und leicht zu stören war. Unvermittelt wurde ihm klar, dass Ed, Helen und die kleine Natalie die jüngsten Anwohner zwischen hier und der Extension gewesen waren … und jetzt waren die Deepneaus fort.

    Ich könnte da runtergehen, dachte er. Ich würde zu ihnen passen. Ich bin nur ein weiterer von Bills Leuten im goldenen Alter.
    Aber das konnte er nicht. Seine Beine fühlten sich an wie von schwachen Fäden gehaltene Teebeutel, und er war überzeugt, wenn er aufzustehen versuchte, würde er zu Boden stürzen, als wären seine Knochen weich geworden. Daher blieb er sitzen, beobachtete alles von seinem Fenster aus und verfolgte, wie sich das Stück auf der Bühne entwickelte, die zu dieser Zeit stets einsam und verlassen gewesen war … das heißt, abgesehen von den vereinzelten Auftritten Rosalies. Es war ein Schauspiel, das er selbst mit einem einzigen anonymen Telefonanruf inszeniert hatte. Er sah die Sanitäter wieder mit der Bahre herauskommen, aber diesmal bewegten sie sich langsamer, weil eine Gestalt unter einem Laken auf der Bahre festgeschnallt war. Blaue und rote Lichtstreifen flackerten abwechselnd über das Laken und die Umrisse von Beinen, Hüften, Armen, Hals und Kopf darunter.
    Plötzlich wurde Ralph in seinen Traum zurückversetzt. Er sah seine Frau unter diesem Laken - nicht May Locher, sondern Carolyn Roberts, deren Kopf jeden Moment aufplatzen würde, sodass die schwarzen Käfer, die sich an ihrem kranken Gehirn fett gefressen hatten, herausquellen konnten.
    Ralph drückte die Handflächen auf die Augen. Ein Laut - ein unartikulierter Laut von Trauer und Wut, Grauen und Erschöpfung - entrang sich ihm. So saß er lange Zeit da, wünschte sich, er hätte das alles nie gesehen, und hoffte verzweifelt, dass er, falls es diesen Tunnel gab, ihn niemals würde betreten müssen. Die Auren waren seltsam und
wunderschön, aber nicht so schön, dass sie den schrecklichen Augenblick seines Traums wettmachen konnten, in dem er seine Frau unterhalb der Flutlinie begraben am Strand entdeckt hatte; nicht schön genug, um das entsetzliche Grauen seiner verlorenen, schlaflosen Nächte auszugleichen, ganz zu schweigen vom Anblick der von Laken verhüllten Gestalt, die aus dem Haus auf der anderen Straßenseite gerollt wurde.
    Aber er wünschte sich weit mehr, als dass das Schauspiel zu Ende gehen würde; während er dasaß und die Handflächen auf die geschlossenen Lider presste, wünschte er sich, dass alles vorbei wäre - einfach alles. Zum ersten Mal in den fünfundzwanzigtausend Tagen seines Lebens wünschte sich Ralph Roberts, er wäre tot.

Kapitel 9

1
    An einer Wand des winzigen Kabuffs, das Detective John Leydecker als Büro diente, hing ein Filmplakat, das er wahrscheinlich für ein oder drei Dollar von einer der hiesigen Videotheken bekommen hatte. Es zeigte Dumbo, den Elefanten, der mit ausgestreckten Zauberohren

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