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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Ralph hob das Fernglas erneut, damit er sie besser sehen konnte. Er war sich ziemlich sicher, dass es sich bei dem jüngeren der beiden um den uniformierten Cop handelte, der mit Leydecker bei Ed gewesen war, als sie Ed festgenommen hatten. Knoll? War das sein Name gewesen?
    »Nein«, murmelte Ralph. »Nell. Chris Nell. Oder vielleicht Jess.«
    Nell und sein Partner schienen ein ernstes Gespräch über etwas zu führen - viel ernster als das der beiden kahlköpfigen Ärzte, bevor sie fortgeschlendert waren. Das Gespräch endete damit, dass die beiden Polizisten ihre Schusswaffen zogen und dann nacheinander die schmale Treppe von Mrs. Lochers Haus hinaufgingen, Nell voraus. Er läutete an der Tür, wartete, läutete noch einmal. Diesmal hielt er den Knopf gute fünf Sekunden lang gedrückt. Sie warteten noch einen Moment, dann drängte sich der zweite Cop an Nell vorbei und versuchte selbst sein Glück an der Klingel.
    Vielleicht beherrscht der ja die geheime Kunst des Läutens, dachte Ralph. Hat er wahrscheinlich gelernt, indem er einen Kurs der Rosenkreuzer besucht hat.
    Wenn ja, zeitigte seine Technik diesmal keine Wirkung. Sie bekamen immer noch keine Antwort, und das überraschte Ralph nicht im Geringsten. Er bezweifelte, ob May Locher überhaupt aus dem Bett steigen konnte, seltsame kahlköpfige Männer mit Scheren hin oder her.
    Aber wenn sie bettlägerig ist, muss sie wohl eine Hilfe haben, jemanden, der ihr die Mahlzeiten zubereitet, ihr zur Toilette hilft oder die Bettpfanne gibt …
    Chris Nell - oder möglicherweise auch Jess - trat wieder vor zur Tür. Diesmal jedoch schenkte er der Klingel keine Beachtung und versuchte es mit der alten Hämmerhämmer-hämmer-im-Namen-des-Gesetzes-aufmachen- Methode. Dazu nahm er die linke Faust. Mit der rechten Hand hielt er immer noch die Waffe, den Lauf an das Bein seiner Uniformhose gepresst.
    Ein schreckliches Bild, so klar und deutlich wie die Auren, die er gesehen hatte, kam Ralph plötzlich in den Sinn. Er sah eine Frau mit einer durchsichtigen Sauerstoffmaske über Mund und Nase im Bett liegen. Über der Maske starrten die weit aufgerissenen glasigen Augen blicklos aus den Höhlen. Darunter klaffte der Hals zu einem breiten, gezackten Lachen auf. Bettzeug und Nachthemd der Frau waren blutgetränkt. Ganz in der Nähe lag eine zweite Frau mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden - die Mitbewohnerin. Ein halbes Dutzend Stichwunden der spitzen Schere von Doc Nr. 1 verunzierten den Rücken des rosa Flanellnachthemds dieser Frau. Und Ralph wusste, würde man das Nachthemd hochheben, würde jede Wunde der unter seinem eigenen Arm sehr ähnlich sehen … nämlich, wie der übergroße Punkt eines Kindes, das gerade Schreiben lernt.

    Ralph versuchte, die grässliche Vision wegzublinzeln. Sie wollte nicht verschwinden. Er verspürte dumpfe Schmerzen in den Händen und stellte fest, dass er sie zu Fäusten geballt hatte; die Nägel gruben sich in seine Handflächen. Er zwang sich, die Hände zu öffnen und umklammerte die Oberschenkel. Jetzt sah er vor seinem geistigen Auge, wie die Frau im rosa Nachthemd leicht zuckte - sie war noch am Leben. Aber wahrscheinlich nicht mehr lange. Mit Sicherheit nicht mehr lange, wenn diese beiden Trottel nicht etwas Produktiveres unternahmen, als nur vor der Tür zu stehen und abwechselnd zu klopfen und zu läuten.
    »Los doch, Jungs«, sagte Ralph und drückte seine Oberschenkel noch fester. »Kommt schon, kommt schon, unternehmt etwas, was meint ihr?«
    Du weißt, dass du dir das alles nur eingebildet hast, oder nicht?, fragte er sich unbehaglich. Ich meine, sicher, es könnten zwei tote Frauen da drüben liegen, könnte sein, aber das weißt du nicht, richtig? Das ist nicht wie bei den Auren oder den Spuren …
    Nein, es war nicht wie bei den Auren oder den Spuren, das wusste er, ja . Aber er sah auch, dass da drüben in Nummer 86 niemand die Tür aufmachte, und das sah nicht gerade gut aus für Bill McGoverns alte Klassenkameradin aus Cardville. Er hatte kein Blut an der Schere von Doc Nr. 1 gesehen, aber angesichts der fragwürdigen Qualität des alten Zeiss-Ikon bewies das nichts. Außerdem hätte der Typ sie abwischen können, bevor er das Haus verlassen hatte. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, fügte seine Fantasie dem Bild ein blutiges Handtuch hinzu, das neben der toten Mitbewohnerin im rosa Nachthemd lag.

    »Los doch, ihr beiden!«, rief Ralph mit leiser Stimme. »Herrgott, wollt ihr die ganze Nacht da stehen

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