Schlaflos - Insomnia
etwas zu sehen … wie die kleinen kahlköpfigen Ärzte selbst.
Im vergrößerten Bereich des Fernglases hinkte Rosalie nun mit der Schnauze am Boden und langsam wedelndem, struppigem Schwanz die Harris Avenue entlang. Sie ging von der grün-goldenen Spur von Doc Nr. 1 zu der von Doc Nr. 2 und dann wieder zu der von Doc Nr. 1 zurück.
Warum sagst du mir nicht, was diese streunende Hündin verfolgt, Ralph? Hältst du es für möglich, dass ein Hund eine verfluchte Halluzination wittert? Es ist keine Halluzination; es ist eine Fährte. Eine richtige Fährte. Die Fährte des weißen Mannes, auf die du achten sollst, wie Carolyn gesagt hat. Das weißt du. Du siehst es.
»Es ist trotzdem verrückt«, sagte er sich. »Verrückt!«
Aber war es das? Wirklich? Der Traum war möglicherweise mehr als ein Traum gewesen. Wenn es so etwas gab wie Hyperrealität - und das konnte er mittlerweile beschwören -, dann konnte es auch so etwas wie Präkognition geben. Oder Gespenster, die in Träumen erschienen und die Zukunft vorhersagten. Wer weiß? Es war, als wäre eine Tür in der Mauer der Wirklichkeit geöffnet worden … und jetzt flogen alle möglichen unerwünschten Erscheinungen hindurch.
Eines wusste er mit Sicherheit: Die Spuren waren wirklich da. Er sah sie, Rosalie roch sie, und damit basta. Ralph hatte in den sechs Monaten, in denen er unter frühzeitigem Erwachen litt, eine Reihe seltsamer und interessanter Dinge herausgefunden, darunter auch, dass die menschliche Fähigkeit des Selbstbetrugs zwischen drei und sechs Uhr morgens ihren Tiefststand erreicht zu haben schien, und jetzt war es …
Ralph beugte sich nach vorn, damit er die Uhr an der Küchenwand sehen konnte. Kurz nach halb vier. Hmhm.
Er hob das Fernglas wieder hoch und sah, dass Rosalie immer noch den Spuren der kahlköpfigen Ärzte folgte. Sollte jemand jetzt die Harris Avenue entlanggeschlendert kommen - unwahrscheinlich um diese Zeit, aber nicht ausgeschlossen -, würde er nur einen streunenden Köter mit schmutzigem Fell sehen, der ziellos auf dem Bürgersteig herumschnupperte, wie es unerzogene, herrenlose Hunde überall so tun. Aber Ralph konnte sehen, was Rosalie schnupperte, und darum gab er sich nun endlich die Erlaubnis, seinen Augen zu trauen. Möglicherweise würde er diese Erlaubnis wieder zurückziehen, wenn die
Sonne erst einmal aufgegangen war, aber im Augenblick wusste er hundertprozentig, was er sah.
Rosalie hob plötzlich den Kopf. Sie spitzte die Ohren. Einen Moment war sie fast schön anzusehen, so wie der Anblick eines vorstehenden Jagdhundes schön ist. Dann, kurz bevor die Scheinwerfer eines Autos, das sich der Kreuzung Harris Avenue und Witcham Street näherte, die Straße ausleuchteten, ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Beim Anblick ihres hinkenden, schwankenden Ganges stieg Mitleid in Ralph auf. Wenn man es recht überlegte, war Rosalie da nicht auch eine der Harris Avenue Altsemester? Eine, der nicht einmal ab und zu der Trost einer Partie Gin-Rommé oder Poker um Pennys mit ihresgleichen vergönnt war. Kaum war sie in der Gasse zwischen dem Red Apple und dem Eisenwarenladen verschwunden, bog ein Streifenwagen der Polizei von Derry um die Ecke und rollte langsam die Straße entlang. Die Sirene war nicht eingeschaltet, wohl aber das Blinklicht. Es ließ die schlafenden Häuser und kleinen Geschäfte in diesem Teil der Harris Avenue abwechselnd rot und blau aufleuchten.
Ralph legte das Fernglas auf den Schoß, beugte sich auf dem Ohrensessel nach vorn, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, und wartete gespannt. Sein Herz schlug so fest, dass er es in den Schläfen spüren konnte.
Vor dem Red Apple bremste der Streifenwagen auf Schritttempo. Der Suchscheinwerfer an der rechten Seite wurde eingeschaltet, und der Lichtstrahl wanderte an den Fassaden der schlafenden Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. In den meisten Fällen glitt er auch über Hausnummern neben Türen oder an Verandabalken.
Als er die Nummer von May Lochers Haus anstrahlte (86, sah Ralph, und er brauchte das Fernglas nicht, um es zu entziffern), leuchteten die Bremslichter auf, und der Wagen kam zum Stillstand.
Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und näherten sich dem Fußweg zum Haus, ohne etwas von dem Mann zu ahnen, der sie von einem dunklen Fenster im zweiten Stock auf der anderen Straßenseite beobachtete, und ohne die grün-goldenen Fußspuren zu sehen, über die sie schritten. Sie berieten sich, und
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