Schlaflos - Insomnia
Ralph stieg ohne bewusste Absicht und ohne das Gefühl eines geistigen Blinzelns auf. Farben strömten in den Tag ein, aber er bemerkte es kaum; seine ganze Aufmerksamkeit galt Dorrance, und er vergaß fast zehn Sekunden lang sogar zu atmen.
Ralph hatte im vergangenen Monaten Auren vieler Farben gesehen, aber keine kam auch nur im Entferntesten in die Nähe der prunkvollen Hülle, die den alten Mann umgab, den Don Veazie einmal als »ausgesprochen nett, aber wirklich ein ziemlicher Dummkopf« beschrieben hatte. Es war, als wäre Dorrance’ Aura durch ein Prisma gebrochen worden … oder einen Regenbogen. Er versprühte Licht in blendenden Farben: Blau folgte Magenta, Magenta folgte Rot, Rot folgte Rosa, Rosa folgte das cremige Gelb-Weiß einer reifen Banane.
Er spürte, wie Lois’ Hand nach seiner tastete, und ergriff sie.
[»Mein Gott, Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön er ist?«]
[»Ja, gewiss.«]
[»Was ist er? Ist er überhaupt ein Mensch?«]
[»Ich weiß n…«]
[»Hört auf, alle beide. Kommt wieder runter.«]
Dorrance lächelte immer noch, aber die Stimme, die sie in ihren Köpfen hörten, war befehlend und kein bisschen unbestimmt. Und bevor Ralph sich mittels bewusster Gedankenanstrengung nach unten zurückversetzen konnte, spürte er einen Stoß. Die Farben und die gesteigerte Besonderheit der Geräusche verschwanden sofort aus dem Tag.
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Dor. »Es ist schon Mittag.«
»Mittag?«, fragte Lois. »Das kann nicht sein! Es war nicht einmal neun, als wir hierher gekommen sind, und das kann höchstens eine halbe Stunde her sein!«
»Die Zeit vergeht schneller, wenn man hoch oben ist«, sagte der alte Dor. Er sprach feierlich, aber seine Augen funkelten. »Da könnt ihr jeden fragen, der samstagabends Bier trinkt und Countrymusic hört. Kommt jetzt! Beeilt euch! Die Uhr tickt! Überquert den Bach!«
Lois ging als Erste, sie hüpfte vorsichtig von Stein zu Stein und breitete dabei wie Dorrance die Arme aus. Ralph folgte ihr und hielt die Hände zu ihren beiden Seiten in Hüfthöhe, damit er sie halten könnte, falls sie das Gleichgewicht verlor, aber letztlich war er derjenige, der beinahe gestolpert und ins Wasser gefallen wäre. Er konnte es vermeiden, aber nur, indem er einen Fuß bis zum Knöchel durchnässte. Ihm war, als könnte er irgendwo in einem entlegenen Winkel seines Kopfes Carolyn fröhlich lachen hören.
»Kannst du uns gar nichts sagen, Dor?«, fragte er, als sie die andere Seite erreicht hatten. »Wir tappen ziemlich im Dunkeln.« Und nicht nur geistig oder seelisch, dachte er. Er war in seinem ganzen Leben noch nie in diesem
Wald gewesen, nicht einmal als junger Mann, um Rotwild oder Rebhühner zu jagen. Wenn der Weg, auf dem sie gingen, einfach enden sollte, oder falls der alte Dor das verlor, was immer bei ihm für die Orientierung zuständig war, was dann?
»Ja«, antwortete Dor sofort. »Ich kann dir eines sagen, und das ist absolut sicher.«
»Was?«
»Dies hier sind die besten Gedichte, die Robert Creeley je geschrieben hat«, sagte der alte Dor und hielt seine Ausgabe von For Love in die Höhe, und bevor einer von ihnen drauf antworten konnte, drehte er sich um und folgte wieder dem schmalen Pfad, der nach Westen durch den Wald führte.
Ralph sah Lois an. Lois erwiderte den Blick gleichermaßen ratlos. Dann zuckte sie die Achseln. »Komm, alter Junge«, sagte sie. »Wir sollten ihn besser nicht aus den Augen verlieren. Ich habe die Brotkrumen vergessen.«
5
Sie erklommen einen weiteren Hügel, und von dessen Kuppe konnte Ralph sehen, dass der Pfad, dem sie folgten, zu einem alten Holzfällerweg mit einem Grasstreifen in der Mitte führte. Der endete etwa fünfzig Schritte weiter als Sackgasse an einer zugewucherten Kiesgrube. Direkt vor dem Zugang zu der Kiesgrube wartete ein Auto im Leerlauf, ein völlig anonymer Ford neueren Baujahrs, der Ralph trotzdem bekannt vorkam. Als die Tür aufging und der Fahrer ausstieg, fügten sich plötzlich alle Teile zusammen.
Selbstverständlich kannte er das Auto; er hatte es zuletzt Dienstagnacht von Lois’ Wohnzimmerfenster aus gesehen. Da hatte es schräg mitten auf der Harris Avenue gestanden, während der Fahrer im Licht der Scheinwerfer kniete … neben dem sterbenden Hund kniete, den er angefahren hatte. Joe Wyzer hörte sie kommen, hob den Kopf und winkte.
Kapitel 23
1
»Er hat gesagt, ich sollte fahren«, sagte Joe Wyzer, als er das Auto vorsichtig an der Zufahrt
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