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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gewonnen.«
    Nun stellte ein Teil von Ralphs Verstand - ein tief verborgener Teil - einen schrecklichen Vergleich an. Ein anderer Teil, der Helen liebte, wollte ihn unterdrücken, aber es war zu spät. Ihre Augen sahen wie die von Charlie Pickering aus, als Pickering neben ihm in der Bücherei gesessen hatte, und mit einem Verstand, der so einen Blick zustande brachte, konnte man nicht vernünftig reden.
    »Wenn sie uns jetzt aufhalten, haben sie gewonnen!«, schrie sie. Natalie fing in ihren Armen lauter an zu weinen. »Kapierst du das nicht? Verdammt noch mal, KAPIERST du das nicht? Das werden wir niemals zulassen! Niemals! Niemals! Niemals!«
    Sie hob unvermittelt die freie Hand in die Höhe und ging um das Gebäude herum. Ralph streckte die Hand nach ihr aus, berührte aber nur ihre Bluse mit den Fingerspitzen. Das war alles.
    »Erschießt mich nicht!«, rief Helen den Polizisten auf der anderen Seite des Hauses zu. »Erschießt mich nicht, ich bin eine der Frauen! Ich bin eine der Frauen! Ich bin eine der Frauen!«

    Ralph lief ihr hinterher - ohne nachzudenken, rein instinktiv -, aber Lois zog ihn am Gürtel zurück. »Du solltest besser nicht da vorgehen, Ralph. Du bist ein Mann, und sie glauben vielleicht …«
    »Hallo, Ralph! Hallo, Lois!«
    Sie drehten sich beide zu der neuen Stimme um. Ralph erkannte sie auf der Stelle und war gleichzeitig überrascht und nicht überrascht. Hinter der Wäscheleine mit ihrer Last brennender Laken und Kleidungsstücke stand in einer verwaschenen Flanellhose und alten Converse-Schaftturnschuhen, die mit Isolierband geklebt worden waren, Dorrance Marstellar. Sein Haar, so fein wie das von Natalie (aber weiß statt kastanienbraun), wurde vom Oktoberwind, der über den Hügel fegte, zerzaust. Wie üblich hielt er ein Buch in der Hand.
    »Kommt schon, ihr beiden«, sagte er und winkte ihnen lächelnd. »Beeilt euch und kommt mit. Wir haben nicht viel Zeit.«

4
    Er führte sie einen von Unkraut überwucherten, wenig benutzten Trampelpfad entlang, der schlängelnd in westlicher Richtung vom Haus wegführte. Anfangs wand er sich durch einen ziemlich großen Garten, in dem alles abgeerntet worden war, bis auf die Riesen- und Speisekürbisse, dann in einen Hain, wo die Äpfel gerade zu voller Reife gelangten, und durch eine dichte Brombeerhecke, wo Dornen überall nach ihrer Kleidung zu greifen schienen. Als sie aus dem Brombeerdickicht in ein düsteres Wäldchen mit Fichten und Kiefern kamen, überlegte sich Ralph, dass
sie sich inzwischen auf der Newport zugewandten Seite des Hügels befinden mussten.
    Dorrance schritt für einen Mann seines Alters kräftig aus, und das durchgeistigte Lächeln verschwand nie von seinem Gesicht. Das Buch, das er bei sich trug, war For Love, Poems 1950-1960 von einem Autor namens Robert Creeley. Ralph hatte noch nie von ihm gehört, aber er ging davon aus, dass Mr. Creeley auch noch nie von Elmore Leonard, Ernest Haycox oder Louis L’Amour gehört haben dürfte. Er versuchte nur einmal, den alten Dor anzusprechen, als die drei schließlich den Fuß eines Hangs erreicht hatten, wo Kiefernnadeln einen ebenmäßigen, trügerischen Teppich bildeten. Direkt vor ihnen floss ein kalter Bach schäumend vorbei.
    »Dorrance, was machst du hier? Wie bist du überhaupt hergekommen? Und wo, zum Teufel, willst du hin?«
    »Oh, ich beantworte so gut wie niemals Fragen«, entgegnete der alte Dor mit breitem Lächeln. Er betrachtete den Bach, dann hob er einen Finger und deutete auf das Wasser. Eine kleine braune Forelle sprang in die Luft, schüttelte helle Tropfen von der Schwanzflosse und fiel ins Wasser zurück. Ralph und Lois sahen einander mit identischen Habe ich das gerade wirklich gesehen? -Mienen an.
    »Nee, nee«, fuhr Dor fort und trat vom Ufer auf einen feuchten Stein. »So gut wie niemals. Zu schwierig. Zu viele Möglichkeiten. Zu viele Ebenen … was, Ralph? Die Welt ist voller Ebenen, nicht wahr? Wie geht es dir, Lois?«
    »Prima«, sagte sie geistesabwesend und beobachtete Dorrance, der auf einer Reihe günstig platzierter Steine
den Bach überquerte. Das tat er mit seitlich ausgestreckten Armen, eine Pose, die ihn wie den ältesten Akrobaten der Welt wirken ließ. Gerade als er das andere Ufer erreicht hatte, ertönte ein heftiges Aufwallen vom Hügel hinter ihnen - nicht ganz eine Explosion.
    Und weg sind die Öltanks, dachte Ralph.
    Dor drehte sich auf der anderen Seite des Bachbetts zu ihnen um und lächelte sein verklärtes Buddhalächeln.

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