Schlaflos - Insomnia
Ralph!
Aber er hatte eine Ahnung, dass ihm das nicht möglich sein würde. Er hatte eine Ahnung, dass er für diesen Tunnel bestimmt war, ob er ihn nun betreten wollte oder nicht. Es war ein Gefühl, als würde er nicht hineingeführt, sondern von kräftigen, unsichtbaren Händen vorwärtsgeschoben werden.
»Vergiss es«, murmelte er, rieb sich die Schläfen nervös mit den Fingerspitzen und betrachtete weiter den markierten Termin - übermorgen - auf dem Kalender. »Es liegt an der Schlaflosigkeit. Damit fing es an, dass alles so …«
So was?
»So unheimlich wurde«, sagte er in die verlassene Wohnung. »Damit fing es an, dass alles so unheimlich wurde.«
Ja, unheimlich. Eine Menge Unheimliches, aber die Auren, die er sah, waren eindeutig das Unheimlichste. Das kalte graue Licht - es hatte wie lebendiger Frost ausgesehen -, das über den Mann kroch, der im Day Break, Sun Down Zeitung las. Mutter und Sohn, die in den Supermarkt gingen, mit ineinander verschlungenen Auren, die wie Zöpfe von ihren Händen aufstiegen, an denen sie sich hielten. Helen und Nat inmitten einer herrlichen Wolke elfenbeinfarbenen Lichts; Natalie, die nach den Spuren griff, die seine Finger hinterließen, geisterhafte Kondensstreifen, die nur sie und Ralph sehen konnten.
Und jetzt der alte Dor, der auf seiner Türschwelle erschien wie ein absonderlicher Prophet aus dem Alten Testament … bloß, dass Dor ihn nicht aufforderte, seine Sünden zu bereuen, sondern ihm mitteilte, er solle seinen Termin bei dem Akupunkteur absagen, den ihm Joe Wyzer empfohlen hatte. Das hätte komisch sein müssen, war es aber nicht.
Der Schlund des Tunnels. Jeden Tag ein Stück näher. Gab es wirklich einen Tunnel? Und wenn ja, wohin führte er?
Mich interessiert mehr, was mich da drinnen erwarten könnte, dachte Ralph. In der Finsternis.
Du hättest dich nicht einmischen sollen, hatte Dorrance gesagt. Aber jetzt ist es zu spät.
»Geschehenes lässt sich nicht mehr ungeschehen machen«, murmelte Ralph, und plötzlich beschloss er, dass er das größere Panorama nicht mehr sehen wollte; es war beängstigend. Es war besser, wieder hineinzutreten und sich eine Einzelheit nach der anderen zu betrachten, angefangen mit dem Termin für die Akupunkturbehandlung. Würde er den Termin wahrnehmen oder dem Rat von Dor, alias dem Geist von Hamlets Vater, folgen?
Das war eine Frage, die nicht besonders viel Nachdenken erforderte, fand Ralph. Joe Wyzer hatte Hongs Sekretärin dazu überredet, ihm einen Termin Anfang Oktober freizumachen, und Ralph hatte vor, ihn einzuhalten. Wenn es einen Ausweg aus diesem Dickicht gab, dann wahrscheinlich den, endlich wieder die Nacht durchzuschlafen. Und deshalb war Hong der nächste logische Schritt.
»Geschehenes lässt sich nicht ungeschehen machen«, wiederholte er und ging ins Wohnzimmer, um einen seiner Western zu lesen.
Stattdessen blätterte er den Gedichtband durch, den Dorrance ihm gegeben hatte - Cemetery Nights von Stephen Dobyns. Dorrance hatte in beiden Fällen recht gehabt: Die Mehrzahl der Gedichte waren wie Geschichten, und Ralph stellte darüber hinaus fest, dass sie ihm wirklich gut gefielen. Das Gedicht, aus dem Dor zitiert hatte, trug den Titel »Pursuit« und begann folgendermaßen:
Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann. So verstreichen die Tage … Verschmelzung von Autorennen und dem endlosen Bau einer gotischen Kathedrale.
Durch die Fenster meines rasenden Autos sehe ich zurückbleiben, was ich liebe; nichtgelesene Bücher, nichterzählte Witze, nichtbesuchte Landschaften …
Ralph las das Gedicht völlig gefesselt zweimal und überlegte sich, dass er es Carolyn vorlesen müsste. Carolyn würde es gefallen, was gut war, und noch mehr würde ihr gefallen, dass er, der sonst nur Western und historische Romane las, es gefunden und zu ihr gebracht hatte wie einen Blumenstrauß. Er war schon aufgestanden und suchte einen Fetzen Papier, um die Stelle zu markieren, als ihm einfiel, dass Carolyn schon seit einem halben Jahr tot war, und er fing an zu weinen. Er saß fast fünfzehn Minuten im Ohrensessel, hielt Cemetery Nights auf dem Schoß und wischte sich die Augen mit dem linken Handballen ab. Schließlich ging er ins Schlafzimmer, legte sich hin und versuchte zu schlafen. Nachdem er eine Stunde die Decke angestarrt hatte, stand er wieder auf, machte sich eine Tasse Kaffee und sah sich ein Collegefootballspiel im Fernsehen an.
3
Die öffentliche Bücherei hatte an
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