Schlaflos - Insomnia
wunderte, wie der alte Dor fünf nach neunzig hatte werden können. »Leute, die nichts im Oberstübchen haben, leben immer am längsten«, hatte er Ralph Anfang des Jahres erklärt. »Sie müssen sich um nichts Sorgen machen. Das senkt den Blutdruck und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ventil platzt oder ein Brennstab durchschmort.«
Ralph jedoch war sich nicht so sicher. Für ihn sah der alte Mann mit seinem liebenswürdigen Lächeln nicht hohlköpfig aus; es ließ ihn irgendwie ätherisch und gleichzeitig wissend wirken … eine Art Kleinstadt-Merlin. Trotzdem hätte er heute auf einen Besuch von Dor verzichten können; heute Morgen hatte er einen neuen Rekord aufgestellt und war um 1.58 Uhr aufgewacht, und er war erschöpft. Er wollte nur in seinem Wohnzimmer sitzen, Kaffee trinken und versuchen, einen der Western zu lesen, die er sich in der Stadt gekauft hatte. Vielleicht würde er später noch einmal versuchen, ein Nickerchen zu machen.
»Hallo«, sagte Dorrance. Das Buch, das er bei sich hatte, war ein Taschenbuch - Cemetery Nights , von einem Mann namens Stephen Dobyns.
»Hallo, Dor«, sagte er. »Gutes Buch?«
Dorrance sah auf das Buch hinunter, als hätte er vergessen, dass er eines hatte, lächelte und nickte. »Ja, sehr gut. Er schreibt Gedichte, die wie Geschichten sind. Das gefällt mir nicht immer, aber manchmal schon.«
»Das ist gut. Hör zu, Dor, es ist schön, dich zu sehen, aber der Spaziergang den Hügel herauf hat mich müde gemacht, also könntest du vielleicht ein anderm…«
»Oh, schon gut«, sagte Dorrance und stand auf. Ein schwacher Zimtgeruch umgab ihn, bei dem Ralph immer an ägyptische Mumien hinter roten Samtkordeln in dunklen Museen denken musste. Sein Gesicht war fast ohne Falten, abgesehen von winzigen Krähenfüßen um die Augen, aber sein Alter war dennoch unverkennbar (und ein wenig beängstigend): Seine blauen Augen waren zum wässrigen Grau eines Aprilhimmels verblasst, und seine Haut hatte etwas Durchscheinendes, das Ralph an Nats Haut erinnerte. Seine Lippen waren schlaff und fast lavendelfarben. Sie erzeugten kurze Schmatzlaute, wenn er sprach. »Schon gut, ich bin nicht auf einen Besuch gekommen. Ich bin gekommen, um dir eine Botschaft zu überbringen.«
»Was für eine Botschaft? Von wem?«
»Ich weiß nicht, von wem sie ist«, sagte Dorrance und warf Ralph einen Blick zu, als würde er ihn entweder für begriffsstutzig halten oder denken, dass er sich dumm stellte. »Ich misch mich nicht in langfristige Angelegenheiten ein. Und ich habe dir gesagt, dass du es auch nicht tun sollst, weißt du nicht mehr?«
Ralph konnte sich an etwas erinnern, aber er wusste zum Teufel noch mal nicht genau, an was. Es war ihm auch egal. Er war erschöpft und hatte sich schon einen ermüdenden Vortrag zum Thema Susan Day von Ham Davenport anhören müssen. Er hatte keine Lust, sich jetzt obendrein auch noch mit Dorrance Marstellar herumzuschlagen, so wunderschön der Samstagvormittag auch sein mochte. »Nun, dann gib mir einfach die Botschaft«, sagte er, »und ich schleppe mich nach oben. Wie wäre das?«
»Oh, sicher, bestens, gern.« Aber dann zog eine frische Windbö einen Trichter aus Laub in den strahlenden Oktoberhimmel, worauf Dorrance verstummte und über die Straße sah. Seine verblassten Augen wurden groß, und etwas darin ließ Ralph wieder an das Verherrlichte & Angebetete Baby denken - wie es nach den grau-blauen Spuren seiner Finger gegriffen und die dampfenden Blumen in der Vase über der Spüle betrachtet hatte. Ralph hatte schon beobachtet, wie Dor mit demselben schlaffen Gesichtsausdruck Flugzeugen auf der Rollbahn 3 beim Starten und Landen zugesehen hatte - manchmal eine Stunde oder noch länger.
»Dor?«, drängte er.
Dorrance’ dünne Wimpern flatterten. »Oh! Richtig! Die Botschaft! Die Botschaft ist …« Er runzelte leicht die Stirn und betrachtete das Buch, das er in den Händen hin und her bog. Dann strahlte er übers ganze Gesicht und sah wieder zu Ralph auf. »Die Botschaft ist: ›Sag den Termin ab.‹«
Nun war Ralph derjenige, der die Stirn runzelte. »Welchen Termin?«
»Du hättest dich nicht einmischen sollen«, wiederholte Dorrance und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber jetzt ist es zu spät. Geschehenes lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Sag nur den Termin ab. Lass den Kerl keine Nadeln in dich stecken.«
Ralph hatte sich bereits zur Verandatreppe umgewandt, jetzt drehte er sich wieder um. »Hong? Redest du von Hong?
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