Schlag weiter, Herz
Abend. Sie wusste, was es für ihn bedeutete, auf diese Weise anerkannt zu werden. Er war so stolz, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, erlöst und angekommen. Dass sie keinen seiner Profikämpfe besucht hatte, musste ihn kränken. Da sie es nicht erklären konnte, hatte Nadja Ausflüchte benutzt, sich über das Boxgeschäft mokiert, die strikte Argumentation ihres Bruders übernommen, die selbst Felix nicht mehr prinzipientreu vertrat, seitdem Mert Berufsboxer geworden war.
Nun musste Nadja tapfer sein und den Kampf zumindest im Fernsehen verfolgen. Sie öffnete eine Flasche Wein und trank das erste Glas in einem Zug. Es half ein wenig.
Nadja sah Mert einlaufen und dabei von einem Bein aufs andere hüpfen, die Kapuze zurückgeschlagen. Hinter ihm blitzte Ali auf, der stets versuchte, ein wenig größer zu wirken, als er in Wirklichkeit war. Ali reckte seinen Hals, um hinter Mert sichtbar zu bleiben. Merts Schutzengel, ihr Schutzengel, der kleine Riese. Wieder fuhr die Angst in ihr hoch. Ihr Herz raste, ihr Körper zitterte, sie bekam nicht mehr genug Luft, dann schlug es in Panik um. Nadja tastete sich raus auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Dass ihre Socken dabei nass wurden, bemerkte sie nicht mehr.
Nadja empfand die Show als blassen Durchschlag dessen, was Mert an den Kämpfen aus den USA faszinierte, die Inszenierung, das Anheizen. Doch es war zumindest eine Vorschau auf das, was Mert noch erreichen konnte. Nadja lehnte sich ins Zimmer und sah auf den Fernseher, die Zigarette hielt sie am gestreckten Arm aus der Balkontür. Der Ansager stellte beide Kämpfer vor, dabei ahmte er die Diktion amerikanischer Ringsprecher nach, was sich in einem kehlig gerollten »R« erschöpfte. Als Nadja fertig geraucht hatte, war ihr Herzschlag wieder etwas ruhiger. Langsam ging sie zum Sofa zurück und hinterließ dabei nasse Fußstapfen auf dem Teppich. Sie wollte sich für Mert freuen. Aber wenn sie nur daran dachte, dass er sie fragen würde, mit nach Amerika zu kommen, sank ihr der Mut. Sie würde es nicht mal bis ins Flugzeug schaffen.
Dabei hatte sie kein Recht, ihn zurückzuhalten. Sie wollte ihn nicht blockieren und keine Schuld auf sich laden, indem sie ihm erklärte, dass sie unmöglich dabei sein könnte, wenn er gehen würde. Wie könnte er dann noch mit ihr zusammenbleiben, was wäre sie für ihn, außer einem Klotz am Bein, wenn sie zu Hause blieb, während er seine letzte große Chance wahrnahm, der zu werden, der er immer sein wollte? Ihre Liebe bestand nur noch aus Wehmut. Sie fragte sich, wie er es überhaupt noch mit ihr aushielt. Die Anlässe, sich zu trennen, häuften sich. Nadja wurde kratzbürstig, bei fast allen Themen, zu denen sie unterschiedlicher Meinung waren. Sie versuchte ihre Haltung durchzudrücken, Mert kleinzumachen und zu übertrumpfen. Aber er flippte nicht aus, tappte in keine Falle. Er verließ sie nicht, er hielt durch. Er nahm die Treffer, wartete ab. Und wenn Nadja sich an ihm abgearbeitet hatte, wenn ihre letzte Kraft verbraucht war, stand er immer noch vor ihr, und sie musste sich entschuldigen.
Sie sah Mert in seiner Ringecke pendeln. Ali schmierte ihm Vaseline in das bereits glänzende Gesicht, den Rest rieb er Mert in die Haarstoppeln. Mert blickte zu seinem Gegner. Ein Blick, in dem Nadja jahrelang Tiefe vermutet hatte, hinter dem in Wahrheit aber ein Dschungel lag, in dem Mert sich selbst nicht auskannte.
Sie wurde zornig, fragte sich, warum sie mit ihm zusammenblieb. Mit diesem egozentrischen Gewaltmenschen. Mit einem Kind, dessen Zerstörungstrieb mit den Muskeln und der Potenz eines Erwachsenen ausgestattet war.
Wie konnte Mert behaupten, sie zu lieben, wenn er nicht sah, was mit ihr los war? Wie allein konnte sie sein, wenn alles nur noch dunkel und ohne Trost war und der Mensch, der ihr am nächsten stand, nie auch nur den Versuch unternahm, durch diesen Nebel zu ihr durchzudringen und ihr zu helfen?
Für Mert war sie nur ein Problem, und vor Problemen duckte er ab. Es gab immer einen nächsten Kampf, für den er trainieren, einen Gegner, auf den er sich vorbereiten musste. Auf ihre irrationalen, unverständlichen Ängste konnte er keine Rücksicht nehmen. An manchen Tagen wollte Nadja sich auf den Bürgersteig legen und warten, bis jemand kam, der sie liebte, der sie verstand. Oder bis alles vorbei war. Aber dann kostete sie allein der Versuch, eine Normalität zu simulieren, so viel Kraft, dass sie den Tag nur noch erdulden konnte. Sie schaffte es zur
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