Schlagschatten
Leben war Teil eines bewusst entschiedenen Plans, allein zu bleiben, und es wäre absurd, seine Aufgeschlossenheit als eine Bemühung zu deuten, den Schmerzen der Einsamkeit zu entrinnen. Nicht so spät, nicht, nachdem er mehr als ein Jahr lang jeden menschlichen Kontakt gemieden hat. Wenn Black endlich aus seiner hermetischen Routine ausbrechen wollte, warum würde er dann damit beginnen, dass er mit einem heruntergekommenen alten Mann an einer Straßenecke spricht? Nein, Black wusste, dass er mit Blue sprach. Und wenn er das wusste, dann weiß er auch, wer Blue ist. Es gibt nur die eine Möglichkeit, sagt sich Blue: Er weiß alles.
Als die Zeit kommt, seinen nächsten Bericht zu schreiben, muss sich Blue mit dem Dilemma auseinander setzen: White sagte nie etwas davon, dass er mit Black Kontakt aufnehmen solle. Blue sollte ihn beobachten, nicht mehr und nicht weniger, und er fragt sich nun, ob er nicht die Regeln der Abmachung gebrochen hat. Wenn er das Gespräch in seinen Bericht aufnähme, könnte White Einwände erheben. Wenn er es andererseits nicht erwähnte und wenn Black tatsächlich mit White zusammenarbeitete, wüsste White augenblicklich, dass Blue lügt. Blue grübelt lange darüber nach, aber er kommt deshalb der Lösung nicht näher. Er steckt in der Klemme, so oder so, und er weiß es. Zuletzt beschließt er, das Gespräch wegzulassen, aber nur, weil er noch die schwache Hoffnung hegt, dass er falsch vermutet hat und dass White und Black nicht Hand in Hand arbeiten. Doch dieser letzte kleine Versuch, optimistisch zu sein, fällt rasch in sich zusammen. Drei Tage nachdem er den gesäuberten Bericht abgeschickt hat, kommt sein wöchentlicher Scheck mit der Post, und in dem Umschlag steckt auch ein Zettel, auf dem steht: Warum lügen Sie? Und damit hat Blue den über jeden Schatten eines Zweifels erhabenen Beweis. Und von diesem Augenblick an lebt Blue mit dem Wissen, dass er ertrinkt.
Am nächsten Abend folgt er Black in der U-Bahn nach Manhattan, in normaler Kleidung, denn er hat nicht mehr das Gefühl, dass er etwas verbergen muss. Black steigt am Time Square aus und wandert eine Weile in den hellen Lichtern, dem Lärm und den hin und her drängenden Menschenmengen umher. Blue beobachtet ihn, als ginge es um sein Leben, er ist nie mehr als drei oder vier Schritte hinter ihm. Um neun Uhr betritt Black die Halle des Algonquin-Hotels, und Blue folgt ihm. Es herrscht ein lebhaftes Kommen und Gehen, und Tische sind knapp. Als sich Black an einen Ecktisch setzt, der gerade frei geworden ist, scheint es daher ganz natürlich zu sein, dass Blue auf ihn zutritt und höflich fragt, ob er Platz nehmen darf. Black hat nichts dagegen und deutet mit einem gleichgültigen Schulterzucken an, dass Blue den Sessel ihm gegenüber nehmen kann. Mehrere Minuten sprechen sie nicht miteinander und warten darauf, dass jemand ihre Bestellungen entgegennimmt. Unterdessen betrachten sie die Frauen, die in ihren Sommerkleidern vorübergehen, und atmen die verschiedenen Parfums ein, die hinter ihnen in der Luft schweben, und Blue hat keine Eile, etwas zu unternehmen, er ist es zufrieden abzuwarten und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Als der Kellner endlich kommt und nach ihren Wünschen fragt, bestellt Black einen Black and White mit Eis, und Blue kann nicht umhin, das als geheime Botschaft aufzufassen, dass der Spaß beginnt, und er ist verblüfft über Blacks Unverfrorenheit und über sein grobes, aufdringliches Benehmen. Um der Symmetrie willen bestellt Blue den gleichen Drink, und dabei sieht er Black in die Augen, aber der lässt sich nichts anmerken, er sieht Blue mit einem völlig leeren Blick an, mit toten Augen, die zu sagen scheinen, dass nichts hinter ihnen ist und dass Blue nichts finden wird, so scharf er auch hinsieht.
Dieses Vorspiel bricht nichtsdestoweniger das Eis, und sie beginnen, die verschiedenen Scotch-Sorten zu diskutieren. Ein Thema führt zum nächsten, und während sie da sitzen und über die Unannehmlichkeiten des Sommers in New York plaudern, über die Einrichtung des Hotels und die Algonquin-Indianer, die vor langer Zeit hier lebten, als alles noch Feld, Wald und Wiesen war, wächst Blue langsam in die Rolle hinein, die er an diesem Abend spielen will. Er entschließt sich für einen jovialen Aufschneider namens Snow, Lebensversicherungsvertreter aus Kenosha, Wisconsin. Stell dich dumm, sagt sich Blue, denn er weiß, dass es keinen Sinn hätte, zu verraten, wer er ist, obwohl er weiß, dass es
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