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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Kleinmütigkeit.
    Eine große magere Frau öffnete mir die Tür. Sie hatte eine stark hervorspringende Raubvogelnase, schulterlanges graues Haar und redete wie ein Maschinengewehr. »Sie müssen Mrs. Ranelagh sein«, sagte sie und nahm mich bei der Hand, um mich ins Haus zu ziehen. »Ich bin Wendy Stanhope. Mein Mann hat sich leider verspätet. Freitags ist er immer im Frauenhaus. Schrecklich, diese armen Frauen. Kommen Sie mit in die Küche. Er hat mir gesagt, dass Sie extra aus Dorchester herübergefahren sind. Kann ich Ihnen etwas zu essen anbieten? Oder zu trinken? Nehmen Sie einen Chardonnay?«
    Ich folgte ihr durch den kleinen Flur. »Danke.« Die weiße Kunststoffküche war von einer tödlichen Adrettheit und so klein, dass man sich kaum umdrehen konnte. »Schön«, sagte ich.
    Sie reichte mir mit langer, knochiger Hand ein Glas. »Finden Sie?«, fragte sie verblüfft. »Ich kann diese Küche nicht ausstehen. Die, die wir in Richmond hatten, war mir viel lieber. Aber die Kirche lässt einem keine Wahl, wissen Sie. Man muss nehmen, was einem zugeteilt wird.« Sie holte kurz Atem. »Aber ich habe kein Recht, mich zu beklagen«, fügte sie heiter hinzu. »Ich habe mir das alles selbst zuzuschreiben. Kein Mensch hat mich gezwungen, einen Pfarrer zu heiraten.«
    »Aber Sie sind doch zufrieden mit Ihrem Leben?«
    Sie schenkte sich etwas ein und stieß mit mir an. »O ja, ich bereue kaum etwas. Nur manchmal frage ich mich, wie es gewesen wäre, wenn ich Bauchtänzerin geworden wäre. Aber ich bemühe mich, solchen Gedanken nicht zu lange nachzuhängen.« Sie zwinkerte vergnügt. »Und Sie, mein Kind?«
    »Ich glaube, ich habe nicht die Figur dafür.«
    Sie lachte. »Ich meinte, war das Leben gut zu Ihnen? Sie sehen gut aus, ich nehme also an, Sie sind zufrieden.«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie wartete darauf, dass ich fortfahren würde, und als ich das nicht tat, sagte sie aufmunternd: »Peter hat mir erzählt, dass Sie lange im Ausland gelebt haben. Das muss doch aufregend gewesen sein! Und Sie haben zwei Söhne, ist das richtig?«
    In ihrem beinahe ausgemergelt wirkenden Gesicht spiegelte sich so viel Neugier, dass ich mich ihrer erbarmte – es war schließlich nicht ihre Schuld, dass ihr Mann sich verspätet hatte – und enthusiastisch von unserem Leben im Ausland und unseren Kindern erzählte. Sie beobachtete mich über den Rand ihres Glases hinweg, während ich sprach, und in ihrem Auge blitzte ein hellwacher Blick, der mir nicht geheuer war. Ich war es nicht gewöhnt, von anderen durchschaut zu werden, ich hatte mich schließlich jahrelang darin geübt, eine undurchdringliche Maske zu tragen.
    »Das Leben hat es gut mit uns gemeint«, schloss ich lahm.
    Ihr Gesicht war erheitert. »Sie lügen beinahe so gekonnt wie ich«, stellte sie in sachlichem Ton fest. »Die meiste Zeit schaffe ich es, meinen Frust zu unterdrücken, aber manchmal fahre ich irgendwohin, wo weit und breit nichts ist, meistens auf die Klippen, und schreie, was das Zeug hält. Peter hat davon natürlich keine Ahnung. Er würde mich für verrückt halten, und es würde mich tatsächlich verrückt machen, wenn er dann anfinge, mich zu betütern.« Sie schüttelte ihre grauen König-Lear-Locken. »Es ist schon absurd – wie sind seit vierzig Jahren verheiratet, wir haben drei Kinder und sieben Enkelkinder, und er hat keine Ahnung, wie sehr die Sinnlosigkeit meines Daseins an mir nagt. Ich wäre eine erstklassige Pfarrerin geworden, aber ich hatte nur die Wahl, neben einem Mann die zweite Geige zu spielen.«
    »Und deshalb schreien Sie?«
    Sie füllte mein Glas auf. »Es macht mehr Spaß, als mit einem Kater aufzuwachen«, sagte sie.
    * * *
Psychiatrischer Bericht betreffend Mrs. Ranelagh – aus dem Jahr 1979
    Queen Victoria Hospital,
    Hongkong
    (Psychiatrische Abteilung)

    Mrs. M. Ranelagh, wohnhaft Greenough Lane 12, Pokfulam, Hongkong, wurde von ihrem Allgemeinarzt Dr. J. Tang mit dem Verdacht auf eine postnatale Depression nach der Geburt ihres Sohnes Luke (Geburtsdatum 20. Oktober 1979) an diese Abteilung überwiesen. Ihrem Ehemann zufolge leidet sie bereits seit geraumer Zeit an Depressionen. Medikamentöse Behandlung lehnt sie ab. Am 19. Dezember 1979 führte Dr. Joseph Elias ein zweistündiges Gespräch mit Mrs. Ranelagh.
    (Im Folgenden sind Auszüge aus Dr. Elias' Befund wiedergegeben, der im Februar 1999 an Mrs. Ranelagh freigegeben wurde.)
    ...Mrs. Ranelagh war eine schwierige Patientin. Von Beginn an bestand sie mit aller Beharrlichkeit

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