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Schlangenlinien

Titel: Schlangenlinien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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Viertelstunde lang«, bestätigte ich trocken. »Es war nicht die angenehmste Viertelstunde meines Lebens.«
    »Nein, das kann ich mir vorstellen.« Wieder eine Pause. »Man hat Ihnen hinterher ziemlich übel mitgespielt.«
    »Ja.«
    Einsilbige Antworten mochte er offensichtlich nicht, und so versuchte er es mit einem Themawechsel. »Irgendjemand hat mir erzählt, dass Sie mit Ihrem Mann ins Ausland gegangen seien. Und – hat sich alles zum Guten gewendet?«
    Ich nahm an, das sei seine höfliche Art, sich zu erkundigen, ob ich noch verheiratet war, und versicherte ihm daher, mit meiner Ehe stehe alles zum Besten, fasste mit drei kurzen Worten zwanzig Jahre Ausland zusammen, erwähnte meine beiden Söhne und fragte ihn dann, ob ich ihn einmal besuchen dürfe.
    »Ich würde mich gern über Annies Nachbarn mit Ihnen unterhalten«, erklärte ich und wünschte, ich könnte über die Aussicht, ihn wiederzusehen, etwas mehr Enthusiasmus vortäuschen. Ich verließ mich darauf, dass er aus Pflichtgefühl meinem Besuch zustimmen würde, aber ich war sicher, dass er ihm mit genau so wenig Begeisterung entgegensah wie ich.
    Sein Ton wurde merklich zurückhaltender. »Halten Sie das für klug?«, sagte er. »Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und Ihr Leben scheint sich so gut entwickelt zu haben – Sie sind mit Ihrem Mann zusammengeblieben, haben Kinder bekommen und all das Hässliche hinter sich gelassen.«
    »Ah, Sie erinnern sich an unser Gespräch?«, fragte ich. »Ich war sicher, Sie hätten es vergessen.«
    »Ich erinnere mich gut«, sagte er.
    »Dann werden Sie verstehen, warum ich mit Ihnen über Annies Nachbarn sprechen möchte.«
    Ich hörte sein Seufzen. »Was bringt das denn, in einem Aschehaufen herumzustochern, der längst kalt geworden ist?«
    »Das kommt ganz darauf an, was man findet«, entgegnete ich. »Mein Vater hat einmal ein dickes Scheit ins Feuer gelegt, und als es verbrannte, fiel eine alte Goldmünze heraus. Irgendjemand hatte sie offensichtlich in dem Baum versteckt, und zwei Jahrhunderte später heimste mein Vater die Belohnung ein.«
    Erneute Pause. »Meiner Meinung nach machen Sie einen Fehler, Mrs. Ranelagh, aber ich habe am Freitagnachmittag Zeit. Sie können mich jederzeit nach zwei besuchen.«
    »Danke.« Ich schwieg einen Moment. »Warum finden Sie, dass ich einen Fehler mache?«
    »Rache ist ein unwürdiges Ziel.«
    Ich starrte in einen goldgerahmten Spiegel, der vor mir an der Wand hing. Das Glas war alt und fleckig, es warf mir ein verzerrtes Bild zurück, in dem mein Gesicht dünn und grausam aussah. »Mir geht es nicht um Rache«, versetzte ich betont gelassen. »Mir geht es um Gerechtigkeit.«
    Sein Lachen kam unerwartet. »Das glaube ich nicht, Mrs. Ranelagh.«

    Ich wollte nicht mit Sam zusammen nach Exeter fahren; es wäre reine Zeitverschwendung, sagte ich, wenn wir beide führen, wo doch dringend der Rasen gemäht und die Blumenbeete gesäubert werden müssten. Er schien sich damit zufrieden zu geben. Beim Frühstück fiel mir allerdings der forschende Blick auf, mit dem er mich musterte.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Ach, ich habe mich nur gefragt, warum es alle Welt in den Südwesten Englands zieht«, sagte er.

    Peter Stanhopes Kirche gehörte zur St. Davidsgemeinde von Exeter. Ich war viel zu früh da, hockte eine Stunde lang in meinem Auto am Straßenrand und ließ die große weite Welt an mir vorüberziehen. Ich parkte am Rand des Universitätsgeländes, und rundherum wimmelte es von Studenten – Gruppen Bücher schleppender junger Leute, junge Paare, an Schultern und Hüften miteinander verwachsen wie siamesische Zwillinge. Ich spürte Neid in mir, besonders auf die leicht bekleideten Mädchen in den knappen Tops und den Röckchen, die kaum über den Po reichten. Sie marschierten mit einer Selbstsicherheit durch den Sonnenschein, wie ich sie nie besessen hatte.
    Das frühere Pfarrhaus war ein beeindruckendes viktorianisches Herrenhaus, halb versteckt hinter hohen Hecken. Davor stand die Reklametafel eines Immobilienmaklers: »Herrliches Penthouse zu verkaufen«. Das neue Pfarrhaus war ein billig gebauter kleiner Kasten gegenüber der Kirche, ohne eine Spur von Charme oder Charakter. Als ich Punkt zwei Uhr meinen Wagen davor anhielt, wünschte ich, ich hätte mich die vergangene Stunde in ein Pub gesetzt und mir Mut angetrunken. Aber ich sah in einem Erdgeschossfenster die Bewegung eines Vorhangs und wusste, dass ich gesehen worden war. Der Stolz siegte über die

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